«Die ganze Kulturszene steckt in einem Trauerprozess»
18.12.2020 BaselbietJürg Gohl
Frau Roth, wann haben Sie selber zuletzt an einem Anlass Kultur geniessen können?
Esther Roth: Das war mein Besuch der «Regionalen». Danach wollte ich der Premiere der Produktion von
Choreografin Tabea Martin aus Biel-Benken ...
Jürg Gohl
Frau Roth, wann haben Sie selber zuletzt an einem Anlass Kultur geniessen können?
Esther Roth: Das war mein Besuch der «Regionalen». Danach wollte ich der Premiere der Produktion von
Choreografin Tabea Martin aus Biel-Benken beiwohnen. Sie wird vom Kanton und von der Pro Helvetia mit einer Dreijahresförderung im Bereich Tanz und Theater unterstützt. Die Premiere wurde bereits im März verschoben, und nun kam in Basel die Beschränkung auf 15 Personen – so fand erneut keine Premiere statt. Nun hoffen wir, dass die Compagnie das Stück im Januar endlich auf die Bühne bringen kann.
Vor Corona waren Sie an zahllosen Anlässen anzutreffen. Hat sich Ihr Terminkalender geleert?
Massiv. Spürbar haben sich dagegen die Sitzungen und Besprechungen mit Institutionen und Kulturschaffenden gehäuft. Anlässe hingegen wurden abgesagt oder verschoben. Einmal pro Woche bin ich während der Corona-Zeit unterwegs, vorher waren es zweibis dreimal.
Und als Sie vor bald fünf Jahren Ihre Arbeit als Kulturverantwortliche des Kantons aufnahmen?
Da waren es mindestens vier Anlässe pro Woche. Nun aber kenne ich das kulturelle Baselbiet besser, und die Kulturakteurinnen kennen mich.
Aber es liegt in erster Linie an Corona, dass Ihre Agenda ungewohnt leer ist.
Natürlich. Im Frühling fand überhaupt nichts mehr statt. Im Sommer gab es mit dem Theaterfestival wieder die erste grössere kulturelle Veranstaltung in der Region. Da trafen sich die Leute aus der Kulturszene, deren Wege sich sonst wöchentlich kreuzen, nach langer Zeit wieder. Das sorgte für eine eigene Stimmung und für einen wunderbaren Abend. Dann folgten bald wieder die ersten Einschränkungen und Schliessungen. Alle Baselbieter Einrichtungen bemühten sich stets, den Betrieb mindestens mit einem reduzierten Angebot aufrechtzuerhalten. Das Marabu, zum Beispiel, hat das Bühnenangebot vorübergehend aufgeben müssen, nicht aber den Kinobetrieb.
Wäre ein kompletter Kultur-Lockdown nicht einfacher?
Einfacher schon. Aber es gibt Leute, die sind alleine und wollen raus, um Kultur geniessen zu können. Sie müssen sich «ernähren» können. Kultur ist wichtig für die Seele. Gerade in diesen schwierigen Zeiten, in denen sich viele ungeduldig fragen, ob sie jemals enden werden. Kultur bringt Trost, lässt uns staunen, lachen und lässt uns auch einmal an etwas anderes denken …
… und lässt uns auch weinen.
Natürlich. Ich erinnere mich an einen Liederabend in Reigoldswil mit Florian Schneider. Als er sein Vaterlied vortrug, begannen ältere Herren zu «grännen». Ich wette, dass die Herren sonst selten weinen. Kultur bietet einen Rahmen, in dem man auch weinen darf, ohne das Gesicht zu verlieren.
Florian Schneider ist professioneller Kulturschaffender. Ihm, seinen Kollegen und seinen Kolleginnen fehlen wegen Corona Auftritte und damit Einkünfte. Sehe ich das richtig, dass die bildende Kunst weniger stark betroffen ist?
Da gibt es keinen grossen Unterschied. Auch eine Malerin kann in der Corona-Zeit nicht ausstellen, und das lässt sich nicht wettmachen, indem sie nächstes Jahr mehr ausstellt. Wegen Corona müssen Kunsträume aktuelle Ausstellungen verlängern, andere wurden verschoben.
Wie kommen all diese Leute zu einem Einkommen?
Da gab oder gibt es verschiedene Massnahmen. Sie erhalten von der Ausgleichskasse eine Erwerbsausfall-Entschädigung, die aufgrund ihrer Einkünfte in einem normalen Jahr bestimmt wird. Daneben konnten die Kulturschaffenden Ausfallentschädigung beim Kanton beantragen. Die Umsetzung dieser Massnahmen war für die Zuständigen beim Bund und bei den Kantonen eine extrem herausfordernde, komplexe Arbeit. Das war für alle eine sehr anstrengende Zeit, zumal es immer zu Anpassungen kam. Diese kamen am Anfang im Wochentakt. Wir führten eine Hotline und bemühten uns, die Kulturschaffenden zu begleiten und auf den neusten Stand zu bringen. Oft erfuhren wir Änderungen selber erst über die Pressekonferenzen des Bundesrats, also gleichzeitig wie die Direktbetroffenen. Eine hektische, zerfahrene Zeit. Am Anfang dachten wir: «Drei Monate auf die Zähne beissen, dann geht es im Herbst mit neuem Elan weiter.» Doch dann ging es im Herbst überhaupt nicht weiter. Es folgte dafür der ganze Prozess mit dem Covid-19-Gesetz.
Abgesehen von den finanziellen Konsequenzen: Kunstschaffende konnten ihre Arbeit nicht zeigen. Ihnen fehlt die Reaktion des Publikums. Wie sehr drückt diese Situation auf sie?
Alle Bühnenkünstlerinnen und -künstler spüren das auf radikalste Weise. Wir merkten, dass alle Betroffenen die Situation als riesigen Schock wahrnehmen, der extreme Ängste auslöst. Verschiedene hatten vielleicht ein sehr erfolgreiches Jahr hinter sich und wollten heuer daran anknüpften und noch stärker auf die Karte Kunst setzen. Alles bricht plötzlich weg und vor allem fehlt eine Perspektive. Allmählich stellen sie sich die Frage: Wird es überhaupt jemals so sein wie vor der Pandemie, mit Auftritten, vollen Häusern und so weiter? Die ganze Kulturszene steckt in einem Trauerprozess. Man wird wütend, laut, politisch und stellt Forderungen. Zu Recht.
Es gibt ja auch noch die Freizeitkultur, die eingeschränkt ist: Chöre, Laientheater, Musikvereine. Von ihnen haben wir nicht gesprochen.
Die aktuelle Situation ist für alle Menschen eine riesige Herausforderung und bringt Einschränkungen mit sich. Die Vereinskultur ist für zahllose Menschen sehr zentral und der wichtigste Ausgleich zum Alltag, auch weil man sich dann in einem sozialen Netz mit Gleichgesinnten bewegen kann. Gerade zu Beginn, als wir von Corona noch wenig wussten, waren Unverständnis und Empörung gross: Weshalb wird uns nun auch noch das gemeinsame Singen verboten?
Es geht also auch um die sozialen Strukturen, die diese Vereine bieten?
Natürlich. Wobei man sogleich anfügen muss, dass diese sozialen Strukturen in der Krise auf eine andere Art bewiesen haben, wie tragfähig und wichtig sie sind. Viele Vereine engagierten sich auf andere Weise. Sie besorgten Einkäufe und konzertierten coronakonform draussen vor Altersheimen. Auch hier zeigte sich, dass ein Chor auch in normalen Zeiten nie nur Selbstzweck ist. Natürlich macht man dort mit, weil man selber gerne singt. Ebenso wichtig ist aber auch der Wunsch, anderen Freude zu bereiten und die Gesellschaft um ein Stück zu bereichern.
Neue Leiterin
jg. Ab 1. Januar wird Esther Roth fixe Leiterin des Amts für Kultur (die «Volksstimme» berichtete). Zuvor rotierte das Präsidium im Zweijahresrhythmus. Diese Änderung wird im Rahmen einer Reform von Monica Gschwinds Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion vollzogen. Die neue Leiterin relativiert aber, dass es sich um eine administrative und keine fachliche Funktion handle. Dafür wird sie als Leiterin der Hauptabteilung «kulturelles. bl» entsprechend entlastet. «Aber ich werde fachlich nicht in die Arbeit meiner Leitungskollegin Susanne Wäfler in der Kantonsbibliothek und meinen Leitungskollegen Reto Marti in der Archäologie sowie Dani Suter bei der Römerstadt Augusta Raurica reinreden.»
Baselbieter Bijoux
jg. Seit dem 1. Februar 2016 ist die 40-jährige Esther Roth die Kulturbeauftragte des Baselbiets. Da sie in einem Dörfchen im Oberaargau aufgewachsen ist, hat sie erst in den vergangenen fünf Jahren die Besonderheiten der Baselbieter Kultur näher kennen- und, wie sie anfügt, schätzen gelernt. Das Gesehene und Erlebte beeindruckt sie. Zuerst zählt sie die «aussergewöhnlich bunte» Chorlandschaft sowie die schweizweit einzigartige partnerschaftliche Projekt- und Produktionsförderung mit dem Nachbarkanton an. Als weiteres Merkmal streicht sie die Burgenlandschaft hervor. «Und natürlich die Feuer- und Fasnachtsbräuche. Sie sind für eine Bernerin natürlich äusserst beeindruckend.»