MEINE WELT
18.12.2020 Gesellschaft«Die Zeit, die Zeit»
… heisst eine beklemmende Geschichte von Martin Suter (1948). In diesem Roman (2012) will ein eigenbrötlerischer Witwer die Zeit überlisten, indem er einen Moment aus der Vergangenheit detailgetreu zu rekonstruieren versucht. ...
«Die Zeit, die Zeit»
… heisst eine beklemmende Geschichte von Martin Suter (1948). In diesem Roman (2012) will ein eigenbrötlerischer Witwer die Zeit überlisten, indem er einen Moment aus der Vergangenheit detailgetreu zu rekonstruieren versucht. Das Ziel: seine verstorbene Frau zurück ins Leben zu holen. Tatsächlich ist die Zeit etwas Überirdisches, und philosophiert man über sie, tun sich kosmische Abgründe auf. Bewusst wurde mir das erstmals als Heranwachsender angesichts des Zeitreise-Paradoxons in «Terminator» (1984).
Ursprünglich wollte ich Sie hier ja mit einem persönlichen Jahresrückblick langweilen. Dann hätten Sie zum Beispiel erfahren, dass Neil Young (1945) endlich den zweiten Teil seines Musikarchivs veröffentlicht hat. Oder dass ich wegen Sohn Nr. 2 (2000) nicht mehr das innerfamiliäre Autofahr-Monopol innehabe. Oder wie begeistert ich seit Kurzem von den Büchern Daniel Kehlmanns (1975) bin. Aber dann bin ich eben über den Zeitfaktor gestolpert. Und der drängt sich, das muss ich zugeben, immer mehr in den Fokus.
Bis jetzt habe ich (1974) jedes Klettern der Zehnerzahl bei Geburtstagen mit einem kurzen Schulterzucken flugs in die Schublade vernachlässigbarer Fakten bugsiert. Doch die Zeit, die seither einfach nicht aufgehört hat zu vergehen, hinterlässt tatsächlich Spuren. Die sehe ich im Spiegel. Apropos: Kürzlich hat sich ein BaZ-Journalist dazu verstiegen, die Schutzmaske als willkommenes Alltagsutensil zu preisen, weil sie seinen «Zinggen» kaschiere. Nun, für meine Schönheit ist sie kontraproduktiv. Nichts ist so faltig wie das Einzige, das die Maske ausspart: meine Augenpartie. Mein maskiertes Spiegelbild weckt bei mir stets Assoziationen mit Kratereinschlägen, The Walking Dead oder – noch schlimmer – einem ungeschminkten Donald Trump. Puh! Zum Glück fehlt mir für eine Midlife-Crisis schlicht die Zeit.
Kürzlich blickte mir jemand aus der Zeitung entgegen, den ich sofort erkannte. Es war der Leiter des sogenannten Reflexionsseminars aus der Zeit meines Primarlehrerstudiums. Diese Seminare sind nicht so schlimm, wie sie klingen – sie sind viel schlimmer! Zumal der Mann stundenlang monologisierte und sich dabei ständig selber widersprach. Was das mit der Zeit zu tun hat? Nun, es handelte sich um die Todesanzeige des Mannes. Das Seminar ist schon mehr als sieben Jahre her. Tatsächlich bin ich schon im sechsten Jahr Primarlehrer. Heuer habe ich übrigens – man erlaube mir hier nochmals einen Schwenker zum persönlichen Rückblick – mein erstes Klassenlager in absoluter Eigenregie durchgeführt, das ich dank der Hilfe meines Sohnes Nr. 1 (1999) und meiner Frau Nr. 1 (Nein, keine Jahreszahl) erfolgreich durchführen konnte.
Etwas jedoch vermag die Zeit wohl nie zu ändern: meine Aversion gegen Weihnachtsbeleuchtungen. Ich bin überzeugt: Je schöner, üppiger, farbiger und greller dieser plastifizierte Auswurf zeitgeistiger Hirnverbranntheit, desto kosmischer die seelischen Abgründe derjenigen, die sie gekauft und ans Stromnetz angeschlossen haben.
Patrick Moser (45) ist ehemaliger Redaktor der «Volksstimme» und heute Primarlehrer im Kanton Aargau sowie Sänger und Gitarrist bei «Lion Minds». Er wohnt mit seiner Familie in Anwil.