Strassenpartys und Fiebersümpfe
24.11.2020 GesellschaftStrassenpartys und Fiebersümpfe
Es ist immer noch nicht richtig angekommen, es wirkt immer noch nicht ganz real: Die Wahl ist vorbei. Knapp drei Jahre bin ich nun hier, drei Jahre, in denen alles, was passierte, mit der ewig gleichen Frage verbunden war: Schadet das Donald ...
Strassenpartys und Fiebersümpfe
Es ist immer noch nicht richtig angekommen, es wirkt immer noch nicht ganz real: Die Wahl ist vorbei. Knapp drei Jahre bin ich nun hier, drei Jahre, in denen alles, was passierte, mit der ewig gleichen Frage verbunden war: Schadet das Donald Trump? Oder nützt es ihm? Trump war immer da, Trump war immer News, er hat alles dominiert: die Schlagzeilen, die Gespräche, selbst das Strassenbild in Washington – überall Anti-Trump-Graffitis, überall Anti-Trump-Kleber.
Nun ist er abgewählt, seine Tage im Weissen Haus sind gezählt, auch wenn er selbst das nicht einsehen will und dagegen ankämpft. Bevor er geht, legt er noch ein Feuer – an der amerikanischen Demokratie. Trump bleibt Trump, bis ganz zum Schluss.
Ich werde mich noch sehr lange erinnern an den Moment, an dem Trumps Niederlage feststand. Es war Samstagvormittag, wir auf dem Weg zu unserem Stammcafé im Quartier. Als die Meldungen eintrafen, brach Jubel aus, zuerst vereinzelt, dann überall. Die Leute schrien aus ihren Wohnungen, sie tanzten auf den Kreuzungen, stiegen auf die Dachterrassen, und immer wieder sagte jemand: «It’s over.» Endlich vorbei. Als wäre gerade ein Krieg zu Ende gegangen.
Natürlich hatte kein Krieg geherrscht in Amerika. Aber es hatte eine Anspannung über allem gelegen, ich habe an dieser Stelle schon darüber geschrieben, und sehr viele Amerikanerinnen und Amerikaner waren nach der ganzen Zeit mit Trump nur noch eines: erschöpft. All dies löste sich plötzlich auf, unter einem blauen Himmel und einer warmen Herbstsonne. In der Nähe des Weissen Hauses feierten die Menschen bis spät in die Nacht. Kein Kriegsende – aber sehr wohl eine Befreiung.
Das Gefühl der Erleichterung, das in der Stadt überall zu spüren war, hielt nicht lange an. Eine Woche später war ich wieder beim Weissen Haus, zusammen mit Tausenden, vielleicht Zehntausenden von Trump-Anhängern, die nach Washington gereist waren, um ihrem Idol den Rücken zu stärken. Die Menschen waren überzeugt, dass Trump die Wahl gewonnen hatte, aber Opfer eines gigantischen Betrugs geworden war, eines Betrugs, hinter dem die Demokraten stecken, die Medien, die Gerichte, die Wahlverantwortlichen, Banker, Kinderhändler oder Satanisten. Finster.
Nicht alle Amerikaner, die Trump gewählt haben, denken so. Wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte. Aber dieser harte Kern von Unterstützern ist das, was Trump einzigartig macht. Kein Politiker hat eine so treue Anhängerschaft, keiner eine so fanatische. Diese Menschen bewegen sich in einer eigenen Medienwelt, sie benutzen Begriffe, von denen die meisten Amerikaner noch nie gehört haben – Verschwörungstheorien, die von einem Fiebersumpf in den nächsten führen.
Ich wünsche den Amerikanern, dass nach Trumps Abgang wieder mehr Platz entsteht für anderes – für Themen, die für das Land und seine Menschen wichtig sind, wichtiger als Trump. Sehr optimistisch bin ich nicht. Aber hoffen darf man, hoffen muss man. Wann, wenn nicht jetzt?
Der Sissacher Alan Cassidy ist USA-Korrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung». Von 2006 bis 2008 schrieb er für die «Volksstimme».