Auf den Tag 675 Jahre danach
10.11.2020 Baselbiet, NiederdorfElmar Gächter
Fährt man mit der Bahn oder dem Auto durch das Bachzeilendorf, käme wohl nur wenigen in den Sinn, Niederdorf als Kandidaten für den Wakkerpreis vorzuschlagen. Dazu fehlt ein klarer historisch gewachsener Ortskern oder die gelungene Verknüpfung von alter ...
Elmar Gächter
Fährt man mit der Bahn oder dem Auto durch das Bachzeilendorf, käme wohl nur wenigen in den Sinn, Niederdorf als Kandidaten für den Wakkerpreis vorzuschlagen. Dazu fehlt ein klarer historisch gewachsener Ortskern oder die gelungene Verknüpfung von alter und neuer Bausubstanz. Aber dies heisst ja bei Weitem nicht, dass das 1800-Seelen-Dorf nicht lebenswert, oder anders gesagt, nicht Heimat wäre – im Gegenteil. «Für mich ist meine Heimat mein Wohnort, wonach ich mich immer sehne, wenn ich in der Ferne bin und mich dann darüber freue, wenn ich an mein Zuhause, meine Heimat, denke.» Und damit sind wir mitten im Thema. Denn das Zitat lässt sich aus dem Vorwort von Martin Zürcher, Gemeindepräsident von Niederdorf, im soeben erschienenen Heimatkundebuch seines Dorfs entnehmen.
Heimatkunde, dieses Wort tönt in dem einen oder andern Ohr fast ein wenig antiquarisch. Alte Fotos und Geschichten? Dafür interessiert sich doch nur die Generation ab 70. Wer das nigelnagelneue Werk der sechsköpfigen Arbeitsgruppe in den Händen hält, wird eines Besseren belehrt. Zusammengefasst auf 408 Seiten zeigt es ein Porträt des Dorfs, das sowohl Alteingesessene als auch Neuzuzüger zum Staunen bringt. Akribisch von mehr als 80 Autorinnen und Autoren recherchiert, unterlegt mit über 400 Fotos, beschrieben in lesenswerten Texten und garniert mit zum Schmunzeln anregenden Kurzgeschichten, lädt es dazu ein, sich der spannenden Lektüre nicht nur an regnerischen Sonntagnachmittagen zu widmen. Ob Siedlung und Zivilisation, Wirtschaft, öffentliches Leben oder Alltägliches und Besonderes – jedes dieser Grobkapitel bietet interessante Rückblicke, spart aber auch nicht mit Aktualitäten.
Geschichten aus dem Leben
Nicht zufällig beansprucht die Beschreibung des öffentlichen Lebens im ersten Heimatkundebuch von Niederdorf den seitenmässig grössten Platz. Denn mit ihm lässt sich das Mehrgangmenü besonders schmackhaft würzen. Was kann authentischer wirken als Erzählungen von Zeitzeugen oder von deren direkten Nachkommen? So berichtet Mario Dubini als Mitglied der Arbeitsgruppe unter der Rubrik «Sache gits» über die Walliser AG und Walter Stürm. Bei Ersterer handelt es sich um eine elektromechanische Werkstätte in Niederdorf, bei Letzterem um den seinerzeit berühmtesten Ausbrecherkönig der Schweiz.
Was es mit dieser einmaligen Geschichte auf sich hat und wie sie endet, sei nicht verraten. «Dies bleibt den Lesern des Heimatkundebuchs vorbehalten», so Mario Dubini. Diese und andere Kurzerzählungen wie «Luschtige Altersnoomidääg» von Kurt Wyss, die spannende Episode vom Galgen im Gebiet Arx, recherchiert von Helene Koch-Schmutz, und viele andere machen das Buch zusätzlich zu einem reichhaltigen Fundus.
Seit die Arbeitsgruppe ihre Tätigkeit aufgenommen hat, sind zehn Jahre vergangen. Der Anstoss dazu kam vom Verschönerungsverein Niederdorf mit seiner Anschubfinanzierung von 10 000 Franken. Nach dem Wohnortswechsel der ehemaligen Gemeinderätin Gabi Loepfe-Lazar nach Zürich übernahm im Jahr 2015 Helene Koch-Schmutz, ebenfalls eine Frau der ersten Stunde, im Zusammenhang mit ihrem Amt als neu gewählte Gemeinderätin sukzessive die Leitung. Mehr als 5000 ehrenamtliche Stunden stecken in dieser gewaltigen Arbeit. Es sei nicht immer einfach gewesen durchzuhalten. «Es war zwischendurch schon ein ‹Hosenlupf›. Doch ich habe stets versucht, diese Mitarbeit als Hobby zu betrachten und habe als eigentlicher Nachtvogel häufig in späten Stunden gearbeitet», blickt Helene Koch zurück. Auch Mario Dubini, der unter anderem die digitale Ordnung der rund 13 000 Dateien sichergestellt hat, spricht von einer anspruchsvollen Zeit. «Corona hat uns noch speziell herausgefordert. Wir konnten uns ja nicht mehr persönlich treffen, sondern mussten ganz auf das Telefonieren und auf digitale Kanäle umstellen.»
Die etwas andere Vernissage
Und so dürfen sich die Mitglieder der Arbeitsgruppe freuen, nach mehr als 200 Sitzungen ihr grosses Werk heute am 10. November der Öffentlichkeit näher vorzustellen. Das Datum geht einher mit einem exklusiven Ereignis, denn just am 10. November 1345, also vor genau 675 Jahren, wurde der Name Niederdorf das erste Mal urkundlich erwähnt. Das Team bedauert es sehr, wegen der Pandemie auf die Vernissage verzichten zu müssen. Aber alle Interessierten können ab heute, 10.11 Uhr über einen Link auf der Website www.niederdorf.ch oder unter Youtube unter «Die etwas andere Vernissage der Heimatkunde Niederdorf» direkt dabei sein.
Der Verkauf des Buchs findet am Mittwoch, 11. November, ab 11.11 Uhr bis in den Nachmittag hinein vor der Gemeindeverwaltung statt. Ganz besonderes auf diesen Moment hingefiebert und die letzten Jahre intensiv am Buch gearbeitet haben Kurt Wyss, Helene Koch-Schmutz und Mario Dubini. «Das Erscheinen des Buchs ist fast ein wenig wie die Geburt eines weiteren ‹Buschis›», meint Helene Koch-Schmutz als Mutter von sechs Kindern.
Die Personen und Zahlen hinter dem Buch
emg. Herausgeberin des Buchs ist die Einwohnergemeinde Niederdorf, erarbeitet hat sie eine Gruppe, die sich aus folgenden Personen zusammensetzt: Kurt Wyss, Helene Koch-Schmutz, Mario Dubini, Gabriela Loepfe-Lazar, Reja Wyss und Emanuel Wittstich; zwischenzeitlich ausgeschieden sind Christian Hostettler aus gesundheitlichen Gründen sowie Seraina Degen wegen Weiterbildung.
Das Korrekturlesen der Texte erfolgte durch das pensionierte Lehrerpaar Marianne und Beat Hartmann aus Niederdorf sowie für die Mundarttexte durch Historiker Thomas Schweizer aus Füllinsdorf. Für die Gestaltung und den Satz sorgten Christa Schmutz und Ueli Pfister von Schmutz Pfister, Grafik und Desgin, Titterten. Für den Druck und das Schlusslektorat zeichnet Schaub Medien AG, Liestal und Sissach, verantwortlich. Am finanziellen Gesamtaufwand beteiligen sich der Swisslos-Fonds Baselland mit 50 000 Franken, die Gemeinde Niederdorf mit 50 000 Franken sowie diverse Sponsoren.