«Wir wollen ein Vorzeigeprojekt sein»
17.11.2020 Bauprojekte, Gesellschaft, Bezirk Sissach, SissachIm Gebiet «Rütschete» entsteht eine Siedlung nach städtischem Vorbild
Die Sissacher Wohnbaugenossenschaft Kordia plant eine grosse Überbauung bei der «Allmend». Ab 2026 sollen über dem Chienbergtunnel rund 200 Menschen ihren gemeinschaftlichen Lebensraum selbst gestalten – ...
Im Gebiet «Rütschete» entsteht eine Siedlung nach städtischem Vorbild
Die Sissacher Wohnbaugenossenschaft Kordia plant eine grosse Überbauung bei der «Allmend». Ab 2026 sollen über dem Chienbergtunnel rund 200 Menschen ihren gemeinschaftlichen Lebensraum selbst gestalten – möglichst ohne Auto.
Sebastian Schanzer
Das Einfamilienhaus: früher der Stoff, aus dem sich viele junge Familien ihre Träume bastelten, heute wegen zunehmender Bodenknappheit und Zersiedelung vor allem in «grünen» Kreisen in Verruf geraten. Seit der Corona-Pandemie beobachten Immobilien-Experten allerdings einen Trend: Die Suche und Nachfrage nach Wohneigentum habe aus mehreren Gründen stark zugenommen, meldete die Immobilienberatungsfirma Wüest und Partner Ende Oktober. Weil viele Menschen während des Lockdowns im Frühjahr zu Hause arbeiteten, sei der Bedarf nach mehr Wohnraum und privat zu nutzenden Grünflächen vor dem Haus deutlich gestiegen. Entsprechend würden auch Einfamilienhäuser wieder beliebter. Die Preise für Wohneigentum sind gemäss Wüest und Partner im Vergleich zum vergangenen Jahr bereits um mehr als 5 Prozent gestiegen.
Ein Trend, den auch Pascal Benninger, Vorstandsmitglied der Grünen Region Sissach, zur Kenntnis genommen hat – widerwillig. Denn: «Das entlegene Einfamilienhaus beansprucht Platz, der immer knapper wird, führt zu hohem Energieverbrauch und fördert die Vereinsamung der Menschen.» Was sich Benninger unter einer «modernen» Wohnform vorstellt, geht in eine andere Richtung: Weniger Wohnfläche, weniger Autos, dafür gemeinschaftlich genutzte Räume und viel sozialer Austausch. Zusammen mit dem pensionierten Sissacher Lehrer Peter Erbacher hat Benninger die Wohnbaugenossenschaft Kordia gegründet. Sie will bis ins Jahr 2026 in Sissach eine Überbauung realisieren, die genau diese Wohnform ermöglicht.
Das dazu nötige Grundstück hat die Genossenschaft unlängst vom Kanton im Baurecht übernommen, wie sie gestern in einer Medienmitteilung verkündete. Die Parzelle im Gebiet «Rütschete» bei der Allmend misst rund 11 000 Quadratmeter, die Überbauung soll günstigen Wohnraum für rund 200 Menschen bieten. Auch Platz für Gewerbe und Dienstleistungen ist vorgesehen.
Für Alt und Jung, Arm und Reich
Die Idee von Überbauungen, in denen der soziale Austausch und das gemeinschaftliche Gestalten dieses Lebensraums gefördert wird, ist zwar keine neue. Solche Gemeinschaften kommen bis jetzt aber vornehmlich in städtischen Gebieten vor. Prominente Beispiele sind die Basler Davidsboden-Siedlung oder die Kalkbreite in Zürich. Dabei sei das Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen sehr wohl auch in Sissach und Umgebung zu spüren, sagt Peter Erbacher, Präsident der Genossenschaft Kordia. «Ich kenne mehrere Personen, die ihr Einfamilienhaus verkaufen wollen, um in unsere Siedlung zu ziehen.»
Auf der Interessentenliste der Genossenschaft haben sich bereits mehr als 100 Personen eingetragen, ohne dass man bisher die Werbetrommel gerührt habe. Auch Erbacher selbst möchte dereinst dort wohnen. «Ich bin allein und brauche den Kontakt mit Menschen», sagt er. Darüber hinaus gebe es in der Region Sissach viel zu wenig Klein- und Kleinstwohnungen. Gerade bei der älteren Bevölkerung bestünde dafür aber eine grosse Nachfrage.
Ziel der Genossenschaft ist eine möglichst breite Auswahl von Mieterinnen und Mietern: Alt und Jung, Familien mit Kindern, Paare, Einzelpersonen, Arm und Reich. Für Menschen, die sich den Mietpreis nicht leisten können, besteht etwa die Möglichkeit, auf einen Sozialfonds zurückzugreifen. «Niemand soll ausgeschlossen werden», sagt Benninger. Je nach Familiensituation könnten die privaten Wohnflächen durch zusätzlich zu mietende Zimmer erweitert und wieder verkleinert werden. So will die Genossenschaft den vorhandenen Wohnraum effizient und flexibel bewirtschaften.
Eine eigens zu gründende Kommission soll darüber entscheiden, welche Bewerber und Bewerberinnen in der Siedlung aufgenommen werden und welche nicht. «Damit wollen wir unter anderem verhindern, dass bestehende Mieter einfach ihre Freunde und Bekannten nachziehen», so Benninger.
Gemeinde begrüsst die Initiative
Eines will man in der Siedlung allerdings lieber nicht sehen: «Grundsätzlich sollen die Bewohnenden ohne Auto in die Siedlung ziehen», sagt Benninger. «Wir möchten eine ökologische Vorzeigeüberbauung erstellen.» Die geplante hohe Anzahl an Veloparkplätzen, ein Carsharing vor der Siedlung, die Bushaltestelle direkt bei der Einfahrt und die Tatsache, dass in 500 bis 600 Metern Distanz alle wichtigen Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen sowie der Bahnhof zu finden sind, spreche dafür, dass die Autos kaum vermisst würden. Ausnahmen werde es aber geben. Das Gesetz sieht ohnehin vor, dass in Quartierplänen pro Wohnung mindestens 0,3 Parkplätze erstellt werden müssen. «Gerade die Gewerbetreibenden sind auf Parkplätze angewiesen und werden diese auch erhalten», so Benninger.
Ebenso wichtig wie der Gemeinschaftssinn und die Ökologie – beim Bau soll möglichst regionales Holz verwendet werden – ist den Initianten des Projekts das Angebot von kostengünstigem Wohnraum. Die Genossenschaft ist nicht gewinnorientiert, verlangt Mieten, die lediglich die Kosten decken. So würden die Mietpreise in den ersten Jahren nach dem Bau schnell unter den durchschnittlichen Marktmieten liegen, weil sie nicht so schnell anstiegen wie im Markt. Angepeilt sind Mietpreise, 20 Prozent tiefer als der Durchschnitt.
Das entspricht durchaus dem Willen der Gemeinde Sissach. «Die Wohnpreise hier sind am oberen Limit», sagt Gemeindepräsident Peter Buser. «Wir begrüssen es deshalb, wenn Angebote für günstiges Wohnen entstehen, die auch die Durchmischung der Bevölkerung fördern.» Darüber hinaus sei man froh, wenn ein Bauprojekt in dieser Grösse von im Dorf verankerten Menschen komme und nicht von einem Investor, der das Maximum an Gewinn aus der Parzelle herausholen will.
Das brachte die Gemeinde auch zum Ausdruck, als sie vor gut drei Jahren einen Brief an alle Landratsmitglieder verschickte. Der Gemeinderat plädierte dafür, die in Besitz des Kantons befindliche Parzelle im Baurecht zu vergeben und sie nicht zum Spekulationsobjekt «verkommen» zu lassen. Der Landrat stimmte bei der Überführung der Parzelle ins Finanzvermögen aus grundsätzlichen Überlegungen zwar gegen den entsprechenden Antrag auf Vergabe im Baurecht des Sissacher Landrats Stefan Zemp. Dennoch kam die Genossenschaft mit ihrem Projekt bei der Regierung letztlich zum Handkuss.
Mehr Zeit zu Hause verbringen
Der nächste Schritt bei der Realisierung ist es nun, Geld zu sammeln. Künftige Mietparteien müssen, wie bei einer Genossenschaft üblich, Anteilscheine zeichnen. Zudem will man Spenden sammeln und bei Banken sowie beim Bund Darlehen aufnehmen. Mittels Architekturwettbewerb soll gleichzeitig ein konkretes Bauprojekt ausgewählt werden, um damit in einem Jahr in das nötige Quartierplanverfahren zu steigen. Die Einwohnergemeindeversammlung muss den Quartierplan bewilligen. Läuft alles rund, könnte die Siedlung im Jahr 2026 bezogen werden.
Ob sich bis dann das Bedürfnis nach grösserem Wohnraum oder gar nach einem Einfamilienhaus wieder verflüchtigt hat? «Nur wegen eines Trends schmeissen wir unsere Pläne nicht über den Haufen», so Benninger. «Klar ist aber: Homeoffice wird auch in Zukunft ein Thema sein, das werden wir in unserer Planung berücksichtigen.» Denn gerade dafür böte die geplante Siedlung intelligente Lösungen. So könnten Gemeinschaftsräume beispielsweise als Büro genutzt werden, in der Siedlungsbar könnte man sich zur Kaffeepause oder zum Feierabendbier treffen.
«Wir wollen einen Lebensraum erschaffen, der die Bewohnenden generell dazu bringt, mehr Zeit zu Hause zu verbringen», so «Kordia»-Präsident Erbacher. «Denn viel zu oft nutzen die Menschen ihren viel zu grossen Wohnraum fast nur zum Schlafen.»