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03.07.2020 BaselbietSchiers: Zwischen Mutprobe, Leichtsinn und Liebe
Zum Leserbrief «Alles paletti oder nostalgische Verklärung?» von Ruedi Pfirter, Hölstein, in der «Volksstimme» vom 23. Juni, Seite 6
Ruedi Pfirter schreibt in seinem Leserbrief, dass er ...
Schiers: Zwischen Mutprobe, Leichtsinn und Liebe
Zum Leserbrief «Alles paletti oder nostalgische Verklärung?» von Ruedi Pfirter, Hölstein, in der «Volksstimme» vom 23. Juni, Seite 6
Ruedi Pfirter schreibt in seinem Leserbrief, dass er auf Begebenheiten wartet, die sich neben dem anspruchsvollen Schierser Seminar-Unterricht und der strengen Hausordnung ereigneten. Einige sind meinem Gedächtnis entschwunden, andere sind noch so präsent, als wäre es gestern gewesen.
Salginatobel-Brücke
Wer den Weg von Schiers zum hoch gelegenen Dorf Schuders unter seine Füsse nahm, musste – ob er wollte oder nicht – die Salginatobel-Brücke überqueren. Dieses wunderbare Bauwerk – für mich ein Symbol aus Schönheit, Stärke und Kraft – schlägt einen eleganten Bogen über das tiefe Tobel. Wanderer passieren die Brücke, wenn sie in der Mitte in die Tiefe schauen, mit einem leichten Schauer im Rücken. Aus Angebertum, Kühnheit oder Übermut – vielleicht auch aus jugendlichem Leichtsinn – entschlossen sich Schüler aus der Evangelischen Lehranstalt (ELA), auf die Brüstung, welche die Brücke gegen aussen abschloss, zu steigen und wie Seiltänzer mit ausgestreckten Armen hinüberzugehen. Man stelle sich vor: Beim Verlieren des Gleichgewichts hätte das den sicheren Tod bedeutet! Für solch halsbrecherische Aktionen hatte ich kein Verständnis – eine solche Mutprobe war eine Verrücktheit!
Selbstregierung und ELA-Sprache
In der 7. Klasse (mit 19 Jahren) kam man in die «Selbstregierung», an deren Spitze der «Oberaufseher» stand. Man beaufsichtigte die unteren Klassen und bestrafte bei Vergehen gegen die Hausordnung die Betreffenden mit Gartenarbeit und Bussen. Ja, wirklich, man fühlte sich «erhaben», weil man in die «Herrscherklasse» aufgestiegen war. Erst in der letzten Klasse genoss man alle Freiheiten, die man stets vermisst hatte.
Die Sprache der ELA war oft ein Gemisch aus heimatlichem Dialekt, aus französischen Brocken («Hesch mir e Säsch?» = Zigarette, abgeleitet von sec, sèche, also trocken), aus mittelhochdeutschen Ausdrücken («Gosch go minnä?» Minne = Liebe), aus romanischen Begriffen («Scarnuz» = Papiersack) oder aus Bündner Mundart («I kumä verruckt»).
Zimmer- und Küchenpersonal
Die «Minne» spielte im letzten Schierser Jahr eine grosse Rolle. Weil Mädchen im Internat nicht geduldet wurden, musste man sie irgendwo suchen – und fand sie auch. Am einfachsten war es, wenn sie das Zimmer putzten. Man nannte sie liebevoll (oder respektlos …) «Putzfiigä»: Junge Frauen, die, so sagte man, «gestrauchelt» oder «gefallen» waren und in Schiers in christlicher Atmosphäre wieder auf den rechten Weg kommen sollten. Diese hübschen Frauen, die, mit Kübel und Besen ausgerüstet, von Zimmer zu zimmer eilten, kamen öfters vom Regen in die Traufe, indem sie auf dem Schoss eines Seminaristen «landeten» und einige Küsse oder Streicheleinheiten einheimsten, wobei natürlich auch der Bursche nicht zu kurz kam …
Wilhelm Buschs Weisheit «Doch jeder Jüngling hat wohl mal / \'n Hang zum Küchenpersonal» bewahrheitete sich: Auch die jungen Frauen, die unser Essen zubereiteten, waren begehrte «Objekte» in unserer Sturm- und Drangzeit. Selbst unser «Oberaufseher» aus dem Glarnerland verfiel den «Sirenengesängen» aus dem Office.
Dorfliebe
Auch ich ging «minnen», aber nicht in der Lehranstalt, sondern im Dorf. Eines Tages, als ich an der Landquart, diesem reissenden Wildbach, der mächtig rauschend daherbrauste, entlang wanderte, entdeckte ich ein Mädchen, das einen Hund spazieren führte. Zuerst reagierte es abweisend, dann aber, als ich sagte, ich sei ein Seminarist von der ELA, wurde es zutraulich. Aber aufgepasst: Diese dunkelhaarige Schönheit – sie hiess Laura – sprach Italienisch, stammte aus dem Bergell und machte bei einem Zahnarzt ein Haushaltlehrjahr. Ich traf sie immer wieder am Ufer, wobei sie einige Brocken Deutsch lernte und ich umgekehrt Italienisch. Ehrlich gesagt: Ich zog die weiblichen Rundungen und die roten Lippen dem Sprachunterricht vor …
Abschluss
Die Primarlehrerprüfung in Liestal (1957), die Schulinspektor Ernst Grauwiller, ein unermüdlicher Kämpfer für eine gute Schule, durchführte, trennte mich von Laura, die ich inzwischen lieb gewonnen hatte. Die Freude darüber, dass ich die Prüfung bestanden hatte und mein Lehrerpatent erhielt, milderte diesen Trennungsschmerz etwas. – Laura sah ich nie wieder, aber eine Jugendliebe vergisst man auch nie.
Daniel A. Eglin-Thommen (83), Pratteln
Die «Volksstimme» erinnerte im Verlauf des Frühlings mit mehreren Beiträgen an das Seminar in Schiers, das einst während Jahrzehnten die «Baselbieter Lehrerschmiede» war.