QUERPASS
26.06.2020 GesellschaftWild, aber so richtig
«Wildbeobachtungspfad» – der Name klingt verheissungsvoll. Gemäss offiziellem Beschrieb eine wunderbare Wanderung, mit drei bis vier Stunden Marschzeit gut machbar. Und, eben, gemäss ihrem Namen kann die Tour nicht nur mit der ...
Wild, aber so richtig
«Wildbeobachtungspfad» – der Name klingt verheissungsvoll. Gemäss offiziellem Beschrieb eine wunderbare Wanderung, mit drei bis vier Stunden Marschzeit gut machbar. Und, eben, gemäss ihrem Namen kann die Tour nicht nur mit der Aussicht auf die umliegenden Berge punkten. Wenn ich Glück habe.
Steinwild soll es in der Region geben, Birkhähne bei der Balz seien zu beobachten und vielleicht auch mal ein Eichhörnchen. Und all das in der freien Natur. Toll! Dieses Moorgebiet sei einzigartig und deshalb auch geschützt, steht auf der Homepage. Klingt fantastisch! Nichts wie hin. Denn jetzt in der Corona-Zeit sind die Chancen auf Wildbeobachtung bestimmt mehr als intakt, denke ich mir, weil diese Wanderung in den vergangenen Wochen kaum begangen wurde.
Der Start ist steil, dafür hat man nach etwa 40 Minuten den gröbsten Teil geschafft. Immer wieder schaue ich an den steilen Hang über und vor mir, folge ich Geräuschen, erhoffe ich mir, ein Tier zu sehen. Nichts. Hätte ich doch einen Feldstecher mitnehmen sollen? Ich verwerfe den Gedanken, bleibe frohen Mutes und folge dem Pfad, der in der Folge ein angenehmes Auf und Ab über Wiesen und Wege ist. Und leider auch über Kuhweiden. Plötzlich gilt meine Konzentration nicht mehr möglichen Gämsen, sondern realen Mutterkühen mit weit aufgerissenen Augen und schnaubenden Nasen. Denen ist nicht zum Scherzen zumute, die wollen ihre Kälber schützen. Ich stoppe für eine Lageanalyse: 1700 Meter über Meer, mutterseelenallein, kein Handyempfang und noch 11 Prozent Akku. Kein idealer Zeitpunkt für eine Mutprobe.
Und auch keine Zeit, noch länger zu überlegen, denn die Kühe kommen näher, sie bedrängen mich, die Lage ist angespannt, ja gefährlich. Mit knapper Not rette ich mich auf die andere Seite des Zauns, laufe diesem in gebührendem Abstand entlang. Die laut muhende Herde verfolgt mich weiter, rennt den schlüpfrigen Hang hinab, ein Kalb rutscht gar aus und stürzt. Und ich will nur noch weg, das Glockengebimmel nervt und ist so ohrenbetäubend, dass die Kühe mein Zureden nicht hören: «Oh, ihr seid doch alle so herzig!» Sie lassen mich nicht aus den Augen.
Am Ende ihrer Weide stehe ich zwar in Sicherheit auf der anderen Seite des Zauns, aber die Kühe versperren mir den Weg: meinen einzigen Weg ins Tal. Ich muss da irgendwie durch, schaffe es schliesslich über einen Umweg ausserhalb ihres Blickfelds wieder auf die Wanderroute. Erleichtert und still schmunzelnd gehe ich weiter. Wild gewordene Kühe statt Steinwild … Unter Wildbeobachtungspfad hatte ich mir etwas anderes vorgestellt.
Seraina Degen
Seraina Degen (33) ist in Niederdorf aufgewachsen. Als Torhüterin spielte sie lange leidenschaftlich Fussball, heute bleibt sie beruflich am Ball – als Redaktorin bei SRF Sport.