WASHINGTON POST
02.04.2020 RegionVirales Shopping mit Doris
Ich würde gerne über etwas anderes schreiben, aber das geht nicht – nicht jetzt, wo auch hier alles vom Virus befallen ist, der Alltag, die Stimmung, das Leben. Freunde in der Schweiz haben uns einige Male gefragt, ob wir ...
Virales Shopping mit Doris
Ich würde gerne über etwas anderes schreiben, aber das geht nicht – nicht jetzt, wo auch hier alles vom Virus befallen ist, der Alltag, die Stimmung, das Leben. Freunde in der Schweiz haben uns einige Male gefragt, ob wir jetzt zurückkehren, wo doch klar ist, dass die USA der nächste Corona-Hotspot werden. Und ich kenne tatsächlich schon zwei deutsche Korrespondenten-Kollegen, die vorzeitig aus New York abgereist sind, weil sie ihre Familien nicht dem dortigen Gesundheitssystem aussetzen wollten. Aber hier in Washington ist die Lage zum Glück viel weniger dramatisch. Und deshalb bleiben wir auch hier.
Ein bisschen Gefängnis-Groove hat das alles jetzt aber schon. Wir könnten zwar – bei einem Notfall in der Familie zum Beispiel – durchaus zurück in die Schweiz. Aber wieder in die USA einreisen dürften wir dann trotz gültigen Visums nicht mehr, wie man uns bestätigt hat. Und auch im Kleinen sind wir hier inzwischen fast so eingesperrt wie in vielen Ländern Europas. Ein Spaziergang um den Block: Viel mehr liegt derzeit nicht drin. Und beim Einkaufen kam es nun schon öfter vor, dass wir im Supermarkt vor leeren Regalen standen: kein WC-Papier, natürlich, aber eben auch kein Gemüse, keine Konserven und keine Tiefkühlprodukte. Eher unangenehm.
Also versuchen wir es zunehmend mit Onlineshopping. Dort ist die Situation zwar nicht viel besser: Entweder die Lieferdienste der Supermärkte sind auf Wochen ausgebucht – oder die Läden würden zwar liefern, haben aber keine Produkte mehr auf Lager. Das merken wir immer dann, wenn wir beim Supermarkt unseres Vertrauens online einkaufen. Auf der Website sieht es zwar immer so aus, als wäre alles da: Eier, Olivenöl, Hefe, sogar WC-Papier. Aber nachdem man sich schon zur Onlinekasse durchgeklickt und bezahlt hat, geht es erst richtig los. Dann kommen die Pushnachrichten von Doris.
Doris ist eine der Shopperinnen (so heisst das hier), die beim Supermarkt die Einkaufsliste von Kunden wie uns erhält und danach die einzelnen Produkte im Laden zusammensucht. Ich hatte zuerst Zweifel, ob Doris eine echte Person ist, aber auf der App des Supermarkts hat sie ein eigenes Profil mit Foto. «Guten Nachmittag!», schrieb Doris also heute, nachdem ich mal wieder bestellt hatte, «Ich beginne jetzt mit dem Shopping!» Zwei Minuten später dann: «Die extra grossen braunen Eier, die Sie wollten, sind ausverkauft. Durch welche anderen Eier soll ich sie ersetzen?» Zwei Minuten später stellte sich heraus, dass auch mein präferiertes Olivenöl vergriffen war, ebenso das WC-Papier (natürlich), die Hefe und knapp ein halbes Dutzend weitere Produkte. Und jedes Mal erhielt ich eine Nachricht von Doris.
So ging das eine halbe Stunde lang. Mein Chatverlauf mit Doris ist inzwischen länger als der mit manchen Freunden. Anstrengend? Vielleicht. Aber dafür haben wir in Corona-Zeiten wieder einen vollen Kühlschrank. Wir – und Millionen andere in Amerika auch. Wegen Menschen wie Doris, die trotz Virus für uns aus dem Haus gehen. Deshalb: Danke, Doris!
Der Sissacher Alan Cassidy ist USA-Korrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung». Von 2006 bis 2008 schrieb er für die «Volksstimme».