HERZBLUT
07.04.2020 GesellschaftAuf der Flucht
Gut zwei Wochen dauert die freiwillige Ausgangsbeschränkung nun schon. Für soziale und freiheitsliebende Wesen, die wir – die meisten von uns – sind, ist das eine massive Einschränkung. Richtig anstrengend wird es, wenn das Internet ...
Auf der Flucht
Gut zwei Wochen dauert die freiwillige Ausgangsbeschränkung nun schon. Für soziale und freiheitsliebende Wesen, die wir – die meisten von uns – sind, ist das eine massive Einschränkung. Richtig anstrengend wird es, wenn das Internet ausverkauft und das Bankkonto leer ist, auf Netflix nur noch «Police Academy 6» ungesehen ist und die vor dem «Shutdown» gekauften Küchenkräuter bereits eingetopft sind.
Aber kein Schatten ohne Licht: Wer mehr oder weniger rund um die Uhr zu Hause gefangen ist, sieht Dinge, die er sonst wegblinzeln kann: Etwa die schmutzigen Fenster im Wohnzimmer, dass das Wasser im Badezimmerlavabo nur zäh abfliesst, im Tiefkühlfach der Schnee die Eiswürfelform verschluckt hat, der Kühlschrank nach Gorgonzola müffelt, obwohl da kein Gorgonzola drin ist, oder das Backofenfenster permanent verdunkelt ist. Selten ist die Motivation grösser, die gelben Gummihandschuhe, die seit Langem auf ihren Ersteinsatz warten, überzustülpen und musikalisch begleitet von «Das bisschen Haushalt macht sich von alleine» gegen Schmutz, Schlieren und Bakterien in den Kampf zu ziehen.
Der Wille war da. Aber als ich das Fenster öffnete und Vogelgezwitscher und 20 Grad warme frische Luft in meine Wohnung drangen, nahm ich mir meinen Frühlingsputz-Soundtrack zu Herzen, liess Schmuddel Schmuddel sein, schulterte den Wanderrucksack und verliess mein Verlies: Frühling, ich komme!
Das Abstandhalte-Gebot beherzigend, wählte ich für die Fahrt zur Sommerau, dem Ausgangspunkt des Erlebnispfads «Wisenbergwärts», das notorisch luftige «Läufelfingerli». Den Lehrpfad hatte ich weniger aus Wissbegierde ausgewählt denn weil ich auf einen gut ausgeschilderten Wanderweg zum Wisenbergturm zu gelangen hoffte. Dass ich wegen akuter Kartenleseschwäche in Kombination mit einer nicht idiotensicheren Ausschilderung bereits nach knapp 400 Metern vom rechten Weg abgekommen bin, schmälerte den Genuss des Ausflugs in keiner Weise. Im Gegenteil: Sie trug mir eine Begegnung mit einem älteren Wanderer ein, der erst mich, und dann ich ihn nach dem rechten Weg fragte. Ihm schien die Isolation auch zugesetzt zu haben: So ergab sich mitten im Wald ein generationenübergreifendes, angeregtes Gespräch. Er erfuhr von mir, wie jämmerlich ich mich verlaufen hatte, und ich von ihm, wie oft er dem Teufel schon vom Karren gesprungen ist, wie gut ihm der tägliche Spaziergang tut – Corona zum Trotz – und dass man den Wisenberg auf die sanfte oder die harte Tour bezwingen kann. Nachdem der Mann meine Schuhe kritisch beäugt hatte, gab er mir seine Erlaubnis für den steileren Aufstieg.
Vielleicht hätte ich trotzdem die Ladies-Route wählen sollen. Denn als ich zu Hause ankam, fehlte mir für mehr als eine Bierdose zu öffnen die Kraft. Da konnte die Nachmittagssonne noch so anklagend durchs schmutzige Fenster scheinen. Aber was solls: Die Quarantäne dauert ja noch eine Weile.
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»