Der letzte Anruf
Gestern sah ich eine Tote. Ich kam mit meinem Sohn aus dem Kino und ging zur Bushaltestelle, und da stand sie. «Was ist?», fragte mein Sohn, «hast Du einen Geist gesehen?» Und ja, tatsächlich. Denn was ich sah, war etwas, das es gar ...
Der letzte Anruf
Gestern sah ich eine Tote. Ich kam mit meinem Sohn aus dem Kino und ging zur Bushaltestelle, und da stand sie. «Was ist?», fragte mein Sohn, «hast Du einen Geist gesehen?» Und ja, tatsächlich. Denn was ich sah, war etwas, das es gar nicht mehr gibt: Eine Telefonkabine. Mein Sohn drängelte: «Na sag schon, was ist?» – «Das ist eine Telefonkabine!» – «Ja und?» – «Die dürfte hier gar nicht mehr stehen. Wurden alle demontiert. Im November. Da kam die letzte weg. Das stand in der Zeitung.» Der Bub zuckte mit der Schulter. Telefonkabinen sind ihm egal. So wie auch Erwachsenengelaber ihm egal ist, all die Geschichten über das, was einmal war. Denn er kennt sie noch nicht, die Nostalgie, die Sehnsucht nach dem Vergangenen und Verlorenen.
«Früher gab es viele von ihnen. Aber dann kam das Handy. Niemand mehr brauchte eine Telefonkabine. Im letzten Herbst hab’ ich für eine Artikelserie über Funklöcher recherchiert, über Orte also, wo’s keinen Handyempfang gibt. Eine furchtbare Vorstellung, oder? Nun, ein solcher Ort ist Häfelfingen. Ich weiss, Häfelfingen sagt dir nichts, aber es ist ein wunderbarer Ort, wenn man gerne Hügel hat – und du weisst ja, dass ich Hügel liebe. Nun, dort merkte die Swisscom, dass die Telefonkabine nicht oft gebraucht wurde. Bloss zwei Gespräche wurden pro Jahr von der Kabine aus geführt. Also schaltete man sie ab. Aber weisst du, was man mit der Kabine machte? Man funktionierte sie zu einer stets zugänglichen Mini-Bibliothek um. Was für eine grossartige Idee! Alle anderen Kabinen im Land kamen auf den Müll. Und die allerletzte, die demontiert wurde, die kam ins Museum. Die stand in Baden, an der Bruggerstrasse. Auch wenn es in den Telefonkabinen manchmal nicht gut roch, so waren sie immer wichtige Orte.» Dies erzählte ich meinem Buben, der selber niemals eine Telefonkabine betreten hatte.
Ich erinnerte mich an die Geräusche, wenn man eines dieser zerschlissenen Telefonbücher aufschlug, die Münzen in den Schlitz warf, den Hörer griff an dem störrischen, metallummantelten Kabel. Wie man die Ohrmuschel erst am Jackenärmel abputzte, bevor man sie ans Ohr presste, und wartete, von Heimweh geplagt aus dem Ferienlager im Kiental anrufend, bis die Mutter am anderen Ende abnahm, um zu hören, dass es einem gut ging. Und dann Sportinfo anrief, die 164 wählte, um zu erfahren, wie der FCB gespielt hatte.
All dies erzählte ich meinem Sohn, der darauf meinte: «Das ist ja hochinteressant!» Er grinste von unten herauf. Nostalgie kennt er noch nicht. Ironie aber schon.
PS: Die vermeintliche Geisterkabine übrigens war real – und funktioniert noch immer. Sie wird von der Allgemeinen Plakatgesellschaft (APG) betrieben und ist in erster Linie ein Werbeträger. Man kann aber gratis von diesen verbliebenen 150 «Telecabs 2000» genannten Kabinen schweizweit telefonieren.
Max Küng wurde 1969 geboren und ist auf einem Bauernhof in Maisprach aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Familie in Zürich und ist ein landesweit bekannter Kolumnenschreiber.