HERZBLUT
04.02.2020 GesellschaftKnusper, knusper, knäuschen …
Erzählen junge Eltern ihren Kindern heute eigentlich noch Märchen? Ich meine solche von grimm\'schem Zuschnitt wie Hänsel und Gretel.
Von diesem Märchen war kürzlich im Radio die Rede. Ich habe es als ...
Knusper, knusper, knäuschen …
Erzählen junge Eltern ihren Kindern heute eigentlich noch Märchen? Ich meine solche von grimm\'schem Zuschnitt wie Hänsel und Gretel.
Von diesem Märchen war kürzlich im Radio die Rede. Ich habe es als kleiner Knopf gehasst. Es lief bei uns daheim ab Schallplatte. Meinen älteren Brüdern machte das nichts aus, ich hingegen verkroch mich irgendwo wie all unsere Katzen selig beim 1.-August-Feuerwerk. Böse Stiefmutter schickt Kinder in den dunklen Wald, böse Hexe fängt die Kleinen und will Hänsel braten. Gretel töten, sodann die Hexe, und als Pointe ist die böse Stiefmutter dann auch noch tot, als die Kleinen wieder zu Hause sind.
Also wirklich! Als behütetes Kindlein war ich auf solch grausigen Stoff nicht vorbereitet. «Es ist nur ein Märchen», lachte man mich aus. Ich habe die Platte irgendwann versteckt …
Ja, Märchen machten den Kindern Angst, hörte ich eine Kinder- und Jugendbuchautorin im Radio sagen. Doch Angst sei eines der wichtigen Gefühle im Leben – und Kinder sollten, ja müssten geradezu bisweilen Angst empfinden. Ohne Angst, so sagte sie, gäbe es die Menschheit längst nicht mehr.
Mag sein. Dennoch denke ich, dass es pädagogisch Wertvolleres gibt als die Hänselund-Gretel-Angst. Seit wenigen Tagen sehe ich mich in dieser Meinung bestärkt: Ein Märchenforscher sprach auf dem gleichen Sender über die Gebrüder Grimm und stellte die Vermutung auf, dass es sich bei «Hänsel und Gretel» ursprünglich um eine wahre Begebenheit gehandelt habe, die sich einst in Hessen zutrug. Während des Dreissigjährigen Kriegs herrschte Hungersnot und die Menschen wurden zu Kannibalen. Die Hexe, so eine Vermutung, könnte eine Bekannte der Familie gewesen sein, der Hänsel und Gretel zum Töten überlassen wurden. Es sei naheliegend, dass die Eltern in ihrer Not nicht das eigen Fleisch und Blut verspeisen wollten und daher die eigenen gegen fremde Kinder tauschten. Denkbar sei auch, dass die Hexe später lediglich hinzugedichtet wurde und die böse Frau in Tat und Wahrheit die leibliche Mutter von Hänsel und Gretel gewesen ist. Übrigens nicht die Stiefmutter, denn diese sei garantiert eine Erfindung der Grimms gewesen. Mit der Folge, dass uns allen kalte Schauer über den Rücken laufen, wenn wir das Wort Stiefmutter hören.
Ich bin nicht zart besaitet. Aber sollte man kleine Kindern mit solchen – vielleicht erst noch wahren – Horrorgeschichten tatsächlich Angst einjagen, weil Angst ein wichtiges Gefühl ist? Falls ja, dann würde ich die Geschichte fantasievoll noch etwas weiterspinnen, um das Gruseln zu perfektionieren. Und zwar so: Die böse (Stief-)Mutter ist nicht einfach so gestorben, sondern wurde vom hungrigen Vater erschlagen, geschlachtet und verzehrt. Als die hungrigen Hänsel und Gretel aus dem Wald zurückkehrten, waren zum Glück noch ein paar Mutterwürste übrig. Knusper, knusper, knäuschen. Wenn das nicht einmal ein Happy End ist!
Erzählen Sie das ruhig Ihren kleinen Kindern und Grosskindern. Es ist nur ja nur ein Märchen.
David Thommen, Chefredaktor «Volksstimme»