MEINE WELT
17.01.2020 GesellschaftVögel statt Pixel
Als ich noch in die Sekundarschule ging, flogen in der Schweiz bis 600 Grauammer-Pärchen. Heute sind es laut dem Schweizer Brutvogel-Atlas noch knapp 100. Man stelle sich diese Dezimierung einmal bei den Menschen vor. Das übertrifft die ...
Vögel statt Pixel
Als ich noch in die Sekundarschule ging, flogen in der Schweiz bis 600 Grauammer-Pärchen. Heute sind es laut dem Schweizer Brutvogel-Atlas noch knapp 100. Man stelle sich diese Dezimierung einmal bei den Menschen vor. Das übertrifft die Todesrate von «Avengers – Endgame» bei Weitem.
Wieso? Monokulturen, Pestizide, Insektensterben, Klimawandel, Sie wissen schon! Und die Grauammer ist nur ein Beispiel von so vielen. Kein Wunder liest sich das Vogelkundler-Magazin Ornis wie eine Todesanzeige in Raten. Wir Menschen machen uns breit. Und wischen dabei all diese faszinierenden Lebewesen unbedacht vom Tisch der Evolution.
Oder die Feldlerche. Ein Wunder, wenn man eine sieht – so wie ich auf einem Feld südöstlich meines Wohnorts vergangenen Sommer. Dass ich mich vor wenigen Jahren plötzlich für die flatternden Nachfahren der Dinosaurier zu interessieren begann, lag wohl an dieser kleinen Blaumeise, die unter der Store unseres Schlafzimmerfensters ihr Nest gebaut hatte. Diese kleine Kreatur zu beobachten, rührte mich. Und ich begann, grossen Respekt zu empfinden vor ihrem Kampf ums Überleben. Und einmal mehr Demut vor der schöpferischen Balance im Kosmos der Natur.
Vorher hätte ich wohl jeden zweiten Vogel für einen Spatz gehalten. Jetzt wurde ich neugierig und aufmerksam. Ich begann, mich über Vögel schlauzumachen. Und betrat die wundersame Welt dieser wunderschönen, kuriosen Kreaturen, deren hypernervöses Verhalten ihre Beobachtung zu einer riesigen Herausforderung macht. Ich fühle mich heute beim Bestimmen noch immer laienhaft und unsicher. Was ich aus Erfahrung sicher weiss: Vögel haben eine instinktive Abneigung gegen alle Ferngläser im Umkreis von 50 Metern … So wurde Ornithologie zu meinem Hobby. Gerade noch rechtzeitig, um die Beschleunigung des Vogelsterbens live mitzuerleben.
Lässt sich das Blatt noch wenden? Ein Tor, der es nicht wenigstens versuchen würde. Aber es eilt, braucht Kraft und guten Willen. Und Geld. Und alle müssen ihren Teil beisteuern. Auch die Bauern. Aber eben nicht nur sie! Wie auch bei all den anderen grossen und dringenden Herausforderungen der Gegenwart braucht es einen Akt der Solidarität, des Miteinanders. Digitales Keifen auf Social Media wird die Welt nicht positiv verändern – im Gegenteil. Aber vielleicht Verzicht? Vielleicht, wenn immer mehr Menschen den Pixeln den Rücken kehren und sich wieder der Natur zuwenden, aus der wir eigentlich stammen und mit der uns immer noch die Nabelschnur des Wunders des Lebens verbindet. Auf Gedeih und Verderb im Übrigen.
So schliesse ich diese Januar-Kolumne, in der wohl noch ein wenig Jahreswechsel-Euphorie nachklingt, indem ich mit dem Folkrocker Neil Young einen der ganz Grossen zitiere. Der kauzige Kanadier, auch ein seltener und seltsamer Vogel, sang 1978: «Es braucht viel Liebe, um zu ändern, wie die Dinge sind. Es braucht viel Liebe oder wir werden nicht weit kommen.» Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Patrick Moser (45) ist ehemaliger Redaktor der «Volksstimme» und heute Primarlehrer im Kanton Aargau. Er wohnt mit seiner Familie in Anwil.