HERZBLUT
21.01.2020 GesellschaftAusmisten
Ich möchte mich verkleinern. Nein, ich mache keine Diät. Ich will ausmisten, entsorgen, wegwerfen. Ich stehe also mit einem leeren 100-Liter-Müllsack vor einem Schrank, den ich in den vergangenen vier Jahren so gut wie nie geöffnet habe. Ich ...
Ausmisten
Ich möchte mich verkleinern. Nein, ich mache keine Diät. Ich will ausmisten, entsorgen, wegwerfen. Ich stehe also mit einem leeren 100-Liter-Müllsack vor einem Schrank, den ich in den vergangenen vier Jahren so gut wie nie geöffnet habe. Ich sage mir: Was ich in vier Jahren nicht vermisst habe, wird mir schwerlich wehtun, wenn ich es auf Nimmerwiedersehen in den Müllsack stecke. Aber schon beim ersten Gegenstand, den ich in die Hand nehme, ein Kalender aus dem Jahr 1994 mit Bildern, die meine Kinder gemalt haben, wird mir klar: Das mit dem Wegwerfen ist nicht so einfach.
Ich scheine nicht die Einzige mit diesem Problem zu sein. In den Buchhandlungen gibt es ganze Büchertische voll zum Thema Entrümpeln. Wobei ich es immer ganz toll finde, dass die Autoren allen Ernstes von mir wollen, dass ich ihren Krempel kaufe, um zu lernen, meinen eigenen loszuwerden. Auf die Spitze treibt es die Japanerin Marie Kondo. Drei Bücher hat sie darüber geschrieben, wie man einen Schrank aufräumt. Sie hat es damit zu Berühmtheit gebracht. Es gibt sogar Kondo-Fanartikel, die man sich nach dem Entrümpeln auf die frei gewordenen Regale stellen kann. Und ihr Nachname wurde im Englischen zum Verb: «to kondo» heisst so viel wie «einen Schrank aufräumen». Wenn das nicht der beste Beweis dafür ist, dass wir ein ziemlich gestörtes Verhältnis zum Aufräumen haben …
Viel nachdenklicher aber stimmt mich der Umstand, dass wir uns den Luxus des Entrümpelns überhaupt leisten müssen. Wie viele Dinge schleppen wir über Monate und Jahre ins Haus, die wir für unentbehrlich, für nützlich oder zumindest für schön halten? Mehr als wir in den Wohnräumen unterbringen können. Darum füllen sich auch Estrich und Keller ohne Probleme. Egal wie gross die sind, sie füllen sich immer.
Das scheint nicht erst so zu sein, seit wir mit einem Mausklick im Internet alles bestellen können, was wir wollen. Bereits im 19. Jahrhundert hat sich der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau darüber beschwert, dass seine Landsleute sich mit unnötigem Krempel die Bude vollstellen. «Gegenwärtig sind unsere Häuser so vollgestopft, dass eine gute Hausfrau den grössten Teil des Plunders in die Kehrichtgrube fegen möchte, wodurch ein Teil ihrer Morgenarbeit aufs beste erledigt würde», schrieb Thoreau 1854. Und um zu beweisen, dass man auch mit weniger auskommen konnte, baute er sich im Wald eine Hütte, in der nur ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett und ein Ofen standen. Zwei Jahre hauste er dort in der Abgeschiedenheit und prahlte damit, dass er sich in dieser Zeit vor allem von selbst angebauten Bohnen ernährte, was zum Glück keinen störte, weil man ihn weder hören noch riechen konnte. Über seine Erfahrung schrieb er ein Buch – wie könnte es anders sein – und ist damit berühmt geworden.
Und was heisst das jetzt für mich?
Entweder ich miste meinen Schrank aus, oder ich schreibe ein Buch darüber und werde berühmt.
Yvonne Zollinger, Redaktorin «Volksstimme»