«Zum Glück trat der Ernstfall nie ein»
30.01.2020 Baselbiet, Gemeinden, Politik, GesellschaftErinnerungen an den Aktivdienst. Heute: Max Utiger, Sissach (I)
Im Frühjahr 1945, vor 75 Jahren, endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Die «Volksstimme» hat aus Anlass dieses Jubiläums einstige Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet besucht. Im ersten Teil unserer kleinen Serie erinnert ...
Erinnerungen an den Aktivdienst. Heute: Max Utiger, Sissach (I)
Im Frühjahr 1945, vor 75 Jahren, endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Die «Volksstimme» hat aus Anlass dieses Jubiläums einstige Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet besucht. Im ersten Teil unserer kleinen Serie erinnert sich Max Utiger (96) an die Zeit, als es galt, die Schweiz vor einem Angriff Deutschlands zu schützen. Utiger war später lange Jahre SP-Gemeinderat von Sissach.
Aufgezeichnet von Paul Aenishänslin
Das Gespräch von «Volksstimme»-Mitarbeiter Paul Aenishänslin mit Max Utiger fand am 16. Januar 2020 im Alters- und Pflegeheim Mülimatt in Sissach statt. Der ehemalige Soldat Utiger erinnert sich wie folgt an seinen Aktivdienst:« Im tiefsten Winter, mit viel Schnee, fand am 2. Januar 1945 die Verlegung unserer Kompanie von Liestal nach Wintersingen statt. Wir hatten als Gebirgs-Mitrailleure Mühe, zu Fuss durch den knöcheltiefen Schnee vorwärtszukommen, mit dem Tornister auf dem Rücken und dem Karabiner an der Seite. Noch schlimmer war es für die rund zehn Pferde, die unter anderem die acht Maschinengewehre unserer Kompanie (zwei pro Zug) tragen mussten.
Endlich in Wintersingen angekommen, wurden wir im Saal des Restaurants Rössli einquartiert. Wir schliefen auf Stroh. Am nächsten Morgen klappte es nicht mit dem Nachschub. So erinnere ich mich gerne daran, dass mir eine Wintersinger Bauernfamilie das Morgenessen angeboten hat. Überhaupt hat uns die kleine Bevölkerung in Wintersingen sehr gut aufgenommen. Sie fühlten sich wohl durch unsere Anwesenheit etwas besser geschützt vor einem möglichen deutschen Angriff, ist doch der Rhein und damit die Landesgrenze zum damaligen Dritten Reich weniger als 20 Kilometer von Wintersingen entfernt.
In der Nacht hörten wir die amerikanischen Kampfflieger, die nach Italien unterwegs waren. Angst hatten wir eigentlich keine. Wir wussten ja, dass die alliierten Truppen, die am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren, auf dem Vormarsch nach Deutschland waren, und das Dritte Reich auch von Osten her eingekreist wurde. Auch war uns General Guisan, der Schweizer General, ein Begriff und wir vertrauten auf seine Réduitstrategie.
Es war Pflicht
Ich bin eigentlich nicht gerne oder ungern in den Aktivdienst eingerückt. Als junger Soldat stellt man sich diese Fragen nicht. Es war einfach Pflicht. Zudem leuchtete uns allen ein, dass unser Schweizer Vaterland gegen einen möglichen Einmarsch von Norden zu schützen war und wir dafür eine so grosse Armee von mehreren Hunderttausend Mann brauchten. Diese Einsicht war unter den Soldaten vorhanden.
Allerdings hatte unsere Kompanie von gegen 200 Mann in Wintersingen ein ernsthaftes Bewaffnungsproblem. Unsere kleine Truppe war mit Maschinengewehren aus dem Jahr 1914 ausgerüstet, die zwar recht zielgenau waren, aber nur langsam schiessen konnten – im Rhythmus ‹Schuss-Schuss-Schuss›, also nicht wie ein modernes Maschinengewehr, wie es die Wehrmacht hatte, das ganze Salven – ‹prrrr…› – abfeuern kann, aber dann leicht nach der Seite ausschert.
Auch war unser Maschinengewehr des Typs 14 mit einem Metallmantel um den Lauf ausgerüstet, in den zur Kühlung Wasser gegossen wurde. Dies machte unser Maschinengewehr wesentlich schwerer und weniger einfach zum Transportieren. Zum Glück trat der Ernst eines Angriffs des Feinds aus dem Norden nie ein, wir wären wohl innert kurzer Zeit zum Kanonen- oder Maschinengewehr-Futter verdammt worden.
In Wintersingen wurde es uns nicht wirklich langweilig. Die Tage waren ausgefüllt mit Gefechtsübungen. Was wir besonders liebten, waren Geländeübungen im Schwarm, die uns erlaubten, Bauernhöfe zu besuchen, wo man uns gerne mit Schnaps und anderem mehr versorgte. Als Soldat im Aktivdienst wurde man nicht reich. Immerhin betrug der Sold 2 Franken pro Tag, das Doppelte des Solds während der Rekrutenschule, und er war damals noch wesentlich mehr wert als heute.
Elf Stunden Nachtwachen
Eine besondere Prüfung waren die Nachtwachen, welche ich als einer Jüngsten in der Kompanie jede Woche zwei Mal schieben musste. Sie dauerten von sieben Uhr abends bis sechs Uhr morgens am nächsten Tag, also geschlagene elf Stunden. Erstens war es sehr kalt draussen in diesem harten Winter zum Wachestehen, und zweitens gefroren nach und nach unsere Füsse im Schnee, was die ganze Sache sehr unangenehm machte.
Nach zwei Monaten in Wintersingen wurden wir zu Fuss nach Teufenthal im Kanton Aargau verlegt. Dieser lange Marsch mit dem Tornister und dem Karabiner war sehr hart. In Teufenthal wurden wir im Schulhaus einquartiert. Ende März 1945 war der Aktivdienst für mich dann zu Ende. Ich war froh, wieder ins Zivilleben zurückkehren zu dürfen. Ich fand gleich eine Stelle in Spiez als Metzger, wo ich ein Jahr lang blieb.
Eine besondere Erinnerung an den 8. Mai 1945, das Kriegsende, habe ich nicht. Wir waren einfach froh, dass dieser schreckliche Krieg in Europa zu Ende war und die Schweiz von ihm verschont geblieben ist – auch dank der Wehrbereitschaft unserer Armee und der ganzen Bevölkerung.
Meinen Vater habe ich mit sieben Jahren verloren. Meine Mutter hat während des Krieges bei Verwandten den Haushalt besorgt, sie war deshalb zum Glück nicht in Not. Mein um sieben Jahre älterer Bruder war auch im Aktivdienst gewesen. Im späteren Leben hat es mich dann definitiv ins Baselbiet verschlagen.
Meine Frau kam aus Sissach, und dort habe ich mit ihr 65 Jahre in der gleichen Wohnung gelebt. Mit älteren Jahren war ich nicht mehr als Metzger tätig. Ich erhielt in Sissach eine Anstellung als Totengräber. 24 Jahre und sechs Monate war ich auch Gemeinderat in Sissach, lange Zeit zuständig für die Feuerwehr, den Zivilschutz und das Militär. Jetzt lebe ich zufrieden im Alters- und Pflegeheim Mülimatt, gehe jede Woche turnen und bin zum Glück noch leidlich gesund.
Gute Kameradschaft
An meine kurze Aktivdienstzeit anfangs 1945 denke ich nur noch wenig zurück, und wenn überhaupt, im positiven Sinn. Ich hatte gute Kameraden und Vorgesetzte, die Wintersinger Bevölkerung hat uns damals vor 75 Jahren gut aufgenommen und ich bin heute noch froh, auch meinen kleinen Beitrag zur Verteidigung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg geleistet zu haben.
Noch eine letzte Bemerkung: Auf ein modernes Maschinengewehr wurde ich erst 1949 im WK in Walenstadt umgerüstet, wo wir zuerst noch mit dem alten Maschinengewehr Munition verschiessen mussten, die nicht mehr gebraucht wurde. Zum Glück hat es keine schlimmen Konsequenzen gehabt, dass wir im Aktivdienst noch mit einem Maschinengewehr aus dem Jahr 1914 unterwegs waren, und in den letzten Kriegsmonaten kein plötzlicher Angriff aus dem Norden durch die modern gerüstete Wehrmacht erfolgt ist.
Wird fortgesetzt.
Der Aktivdienst
pae. Gemäss dem Militärgesetz (letzte Fassung von 1995) umfasst der Aktivdienst den Einsatz von Truppen der Schweizer Armee zur Verteidigung der Schweiz und ihrer Bevölkerung (Landesverteidigungsdienst) und zur Unterstützung der zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit (Ordnungsdienst). Seit 1907 ist die Bundesversammlung dafür zuständig, den Aktivdienst sowie das Aufgebot von Teilen oder der gesamten Armee zum Aktivdienst anzuordnen. Nur in dringenden Fällen kann der Bundesrat den Aktivdienst anordnen. Seit der Gründung des Bundesstaates 1848 leisteten die eidgenössischen Truppen neun Mal einen Aktivdienst zur Landesverteidigung, das letzte Mal 1939-1945. Die Bedrohung damals ging vom Deutschen Reich und dessen Nazi-Regime aus, das 1939 Polen überfallen und anschliessend in einem Blitzkrieg 1940 weite Teile Europas an sich gerissen hatte. Generalmobilmachung war in der Schweiz im Jahr 1939. General Henri Guisan stärkte den Wehrwillen der Schweiz entscheidend, er wurde zum personifizierten Symbol des Schweizer Verteidigungswillens gegen eine mögliche deutsche Invasion.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden in der Schweiz 450 000 Wehrmänner, 250 000 Hilfsdienstpflichtige, 53 000 Pferde und 16 000 Motorfahrzeuge aufgeboten. Das Aufgebot reduzierte sich deutlich nach Bezug des Réduit 1940. Die Wehrmänner kamen auf durchschnittlich 800 Diensttage. Sie werden heute noch als Aktivdienstgeneration bezeichnet, von denen auch im Oberbaselbiet immer noch einzelne Wehrmänner am Leben sind, im Alter von über 95 Jahren, wie diese kleine Serie zeigt.