Die gute Hirtin und ihre Herde
24.12.2019 Baselbiet, Lampenberg, LandwirtschaftSarah Müri zieht mit 380 Schafen übers Land
Seit November und noch bis März ist eine Wanderhirtin mit einer grossen Schafherde im Oberbaselbiet unterwegs. Ein Besuch vor Heiligabend.
David Thommen
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für ...
Sarah Müri zieht mit 380 Schafen übers Land
Seit November und noch bis März ist eine Wanderhirtin mit einer grossen Schafherde im Oberbaselbiet unterwegs. Ein Besuch vor Heiligabend.
David Thommen
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. (Joh. 10, 11)
Schäfer spielen in der Weihnachtsgeschichte eine wichtige Rolle. Nicht etwa auf den Marktplatz von Bethlehem begab sich der Engel des Herrn, um die Nachricht von der Geburt Jesu Christi möglichst vielen Leuten aufs Mal zu verkünden, sondern er weihte draussen auf dem Feld mit einem Furcht einflössenden Auftritt eine Handvoll einfacher Hirten ein – und machte sie damit zu exklusiven Übermittlern der Frohen Botschaft.
Hirten – an denen muss etwas dran sein. 74 Bibelstellen weist das Internetportal knowing-jesus.com nach, an denen sie Erwähnung finden. Was also läge näher, als zur Weihnachtszeit einen Hirten aufzusuchen?
In Lampenberg – nomen est omen – geht uns diesbezüglich ein Licht auf, auch wenn es an diesem Wintermorgen nahe der Abendsmatt eher dämmrig ist. Hier auf einer Wiese mit tiefem Boden treffen wir Sarah Müri, inmitten einer Schafherde mit 380 Tieren. Eine Hirtin also. Ein Bild von einer Hirtin sogar: In der einen Hand ein hoher Hirtenstock, auf dem Kopf ein spitzer Filzhut, zu ihren Füssen ein Hirtenhund. So steht die 36-Jährige wie gemalt in der Landschaft und gibt Kommandos. Ein zweiter Hund ist auf ihren Zuruf ständig in Bewegung und treibt die Herde, die sich nun zu einem kompakten grossen Wollknäuel formiert hat, in Richtung einer provisorisch abgesteckten Weide. Die Tiere haben den Morgen hindurch gefressen und sind satt. Im eingezäunten Bereich sollen sie nun ruhen. Schafe brauchen Mittagspausen, geweidet wird am Nachmittag wieder. In den nächsten Tagen geht es dann westwärts weiter, ins immer ländlichere Gebiet. Vom Kanton bewilligt ist die Wanderung bis März.
Im Sommer auf der Alp
Hirte ist einer der ältesten Berufe überhaupt. Dass ihn in der Schweiz Frauen ausüben, ist selten. Sarah Müri, gelernte Geomatikerin (Vermessung) aus dem Zürcher Unterland, hatte mit Schafen noch nichts am Hut, bis sie sich einen Hirtenhund kaufte und mit ihm zu trainieren begann. So ist sie vom Hund aufs Schaf gekommen. «Ich habe rasch gemerkt, dass mir die Arbeit mit Hund und Herde besonders gut liegt», sagt sie oben auf der Abendsmatt. Bald war sie als Hirtin den Sommer hindurch im Wallis auf einer Alp im Turtmanntal. Zwei weitere Sommer folgten, dann beschloss sie, ihrem neuen Beruf auch im Winter nachzugehen. Im Baselbiet hat sie nun ihre erste Winterwanderweide gefunden.
Die meisten Schafe ihrer Herde gehören Züchter Stephan Sprunger aus Bubendorf, einige weitere stammen aus dem Luzernischen und einige Tiere gehören Müri, die Wohnsitz im Wallis genommen hat, selber. Sie sei am Lernen, sagt sie, die Situation auf Wanderschaft im Baselbiet sei neu für sie. Esel und Herdenschutzhund, die das traditionelle Bild vervollständigen könnten, fehlen im Moment noch. Sie verzichte darauf, um alles so einfach wie möglich zu gestalten und sich und die Herde nicht zu überfordern.
Was macht die gute Hirtin aus? Robust müsse man sein, da man bei Wind und Wetter draussen ist, sagt sie. Und vor allem brauche man innere Ruhe. Es gehe darum, die Harmonie zwischen Hirtin, Hunden und Schafen herzustellen: «Ist man als Schäferin nervös, ungeduldig oder unsicher, dann steckt dies sofort die ganze Herde an.» Dabei brauchten gerade Schafe eine feste Struktur und Sicherheit, sagt sie, denn sie seien besonders sensibel. Sie fressen bald nicht mehr ausreichend, wenn das Umfeld nicht stimmt. Dabei sei es ja gerade das Ziel, am Ende der Wanderung dem Züchter gut genährte und gesunde Schafe zurückzubringen, sagt Müri. Mit ihren satten Tieren, die sich nun nebenan gerade zur Mittagsruhe hinlegen, ist sie augenscheinlich auf gutem Weg.
Die Weihnachtsgeschichte
Was macht die gute Hirtin an Weihnachten? «Tagsüber werde ich wie immer bei meiner Herde sein», sagt sie. Heiligabend dann verbringe sie ausnahmsweise bei ihren Eltern in Bülach, um am Weihnachtsmorgen wieder auf der Weide zu stehen.
Hirten kennen keine Sonn- und Feiertage. Aber immerhin einen Feierabend: Die Schafe bleiben nachts allein, Müri hat sich in Ziefen ein Zimmer gemietet und schläft im warmen Bett. Anders auf der Alp: Dort bleibt sie im Sommer stets draussen. Denn kommt der Wolf, so reisst er im Blutrausch so viele Schafe, wie er nur kriegen kann. Diese Gefahr besteht im Baselbiet noch nicht. Und der Luchs lässt sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht blicken, da Schaf nur ausnahmsweise auf seinem Speiseplan steht. Mehr Respekt hat Müri vor Füchsen, die zuweilen Lämmer holen.
Denkt man als Hirtin eigentlich über die Weihnachtsgeschichte nach? «Ich bin dein Hirte, dir wird nichts mangeln …», sagt Müri und lacht. «Die Schafe wissen, dass ich sie dorthin führe, wo es Wasser und gutes Futter hat. Sie vertrauen mir. Der Bibelbezug ist somit eins-zu-eins vorhanden», sagt sie. Nur dank des Vertrauens der Tiere in sie sei die Herde so ruhig und lasse sich problemlos führen.
Ist es da nicht eine besonders bittere Pointe, dass die vertauensseligen Tiere irgendwann geschlachtet werden? Überhaupt nicht, sagt sie. Das entspreche dem natürlichen Kreislauf. Sie selber esse Fleisch, selbst das der eigenen Lämmer. Schliesslich sei das Fleisch komplett artgerecht produziert worden: «Ziehen, fressen, weiterziehen, fressen – das entspricht genau der Natur der Schafe.» Sie schaue gut zu ihren glücklichen Tieren.
Sind es gar christliche Motive, die sie zu ihrem Beruf geführt haben, was bestens in unsere Weihnachtsgeschichte passen würde? Nein, sagt sie, wobei: Vertrauen habe auch sie. Auf der Alp im Wallis gebe es viele Naturgefahren und auch hier im Baselbiet könnte ihrer Herde jederzeit etwas passieren: «Da bin ich schon auf Schutz von oben angewiesen.» Auch eine gute Hirtin hat also einen guten Hirten. Frohe Weihnachten!