HERZBLUT
08.10.2019 GesellschaftSchlechtes Lied – nächstes Lied
Bald zwei Jahre ist es her, dass ich meine Seele an den Musik-Streaming-Dienst von Apple verkauft habe. Ich geniesse seither unbeschränkten Zugriff auf nahezu alle Neuerscheinungen, erhalte jeden Freitag von iTunes eine ...
Schlechtes Lied – nächstes Lied
Bald zwei Jahre ist es her, dass ich meine Seele an den Musik-Streaming-Dienst von Apple verkauft habe. Ich geniesse seither unbeschränkten Zugriff auf nahezu alle Neuerscheinungen, erhalte jeden Freitag von iTunes eine automatisch generierte Playlist mit Empfehlungen und kann die Musik auf all meinen Geräten abspielen: Handy, MacBook, TV, sogar auf meiner Kiste bei der Arbeit (aber psssssst!). Zeit für ein Fazit.
Habe ich Musik entdeckt, die mir sonst entgangen wäre? Hat sie mich begeistert? Habe ich Geld gespart?
Beginnen wir positiv. Ja, ich habe Geld gespart. Der Dienst kostet knapp 13 Franken im Monat. Früher habe ich mir locker ein Album pro Monat gekauft, das kostete dann jeweils das Doppelte. Ich gebe also weniger Geld für bedeutend mehr Konsum aus. Denn durch die vielen Empfehlungen und jene Neuerscheinungen, die ich sowieso auf dem Schirm habe, leihe ich mindestens zehnmal mehr Künstlern mein Ohr als zuvor. Zudem gibt es keine Fehlkäufe mehr. Was mir nicht gefällt, lösche ich einfach kostenneutral aus der Mediathek. Der Staub in meinem Zimmer muss sich seit der Digitalisierung ohnehin mit dem Lampenschirm begnügen. Froh bin ich auch darüber, dass ich nicht jede Kasperlitheater-Folge kaufen muss, die mein Kind uuunbedingt und jeeetzt hören will, um nach drei Minuten wieder Autospielen zu gehen. «E rondom glongeni Sach», würde also der Appenzeller in mir sagen. Aber:
Ich weiss nicht, wie viele Lieder ich dieses Jahr von Anfang bis zum Ende gehört habe. Oft spule ich gleich zur Mitte, scanne fünf Sekunden lang die Geräuschkulisse und weiss danach, dass mir das Lied nicht gefällt. Schlagzeug zu leise? Next. Klingt wie schon mal gehört? Next. Blöder Text? Next.
Ich kann übrigens auch kaum noch Zeilen auswendig mitsingen (obwohl man sie auf iTunes meist gleich mitlesen kann). Und musikalische Finessen, die einem erst auffallen, wenn man ein Lied schon zwanzigmal gehört hat, entdecke ich so freilich nicht. «Schade um die Arbeit», muss sich ein Musiker denken.
Im vergangenen halben Jahr hat mich von den über 100 gehörten Alben genau eines vom Hocker gerissen (wen es interessiert: «Surfs Up!» von «Fat White Family»). Und ich bin nicht darauf gestossen, weil es mir Apple empfohlen hätte. Denn die liefern mir lediglich Musik vom Typ «klingt-wieschon-mal-gehört» (wen wunderts, wenn sich die Empfehlungen an meiner bestehenden Mediathek orientieren).
Heisst das nun, dass ich das Abo kündigen werde? Natürlich nicht. Ich würde den uneingeschränkten Zugriff schmerzlich vermissen und niemand zwingt mich, ständig zwischen halben Songs zu zappeln. Ich habe wohl schlicht mit dem schier endlosen Angebot an Musik zu kämpfen. Aber der Verzicht darauf macht es auch nicht besser. Die anfängliche Sorge, Musik nur noch zu streamen und nicht mehr auf einer Festplatte zu besitzen, hat sich bei mir übrigens in Luft aufgelöst. Ich bin eh immer online.
Sebastian Schanzer, Redaktor «Volksstimme»