Die Sache mit den Spielsachen
04.10.2019 Baselbiet, ZiefenWas passiert im «Spielzeugfreien Kindergarten» und wie beeinflusst das Konzept, das ursprünglich aus der Suchtprävention stammt, die Kinder? Eine Mutter setzt sich während dreier Monate in den Ziefner Kindergarten und beobachtet das Projekt.
Milena Tebiri
Der ...
Was passiert im «Spielzeugfreien Kindergarten» und wie beeinflusst das Konzept, das ursprünglich aus der Suchtprävention stammt, die Kinder? Eine Mutter setzt sich während dreier Monate in den Ziefner Kindergarten und beobachtet das Projekt.
Milena Tebiri
Der Raum ist noch leer. Stimmen sind zu hören, Kinder rufen, lachen. Die Schulglocke klingelt, die Tür springt auf, das Licht geht an und die ersten Kinder stürmen herein. Sie begrüssen die Kindergärtnerin und hängen ihre Jacken in der Garderobe auf.
Etwas fehlt – die Spielsachen. Zu sehen sind Naturmaterialien: Matratzen, Decken, Tücher, Kissen, Tische, Stühle. Die vorgefertigten Spielsachen sind für drei Monate «in den Ferien». Die Kinder wissen, dass die Spielzeuge während des «Spielzeugfreien Kindergartens» weggefahren sind und erst danach wieder zurückkommen. Sie haben fleissig geholfen, diese in Koffer zu packen. «Spielzeugfrei» ist im Grunde genommen irreführend, da nur auf Fertigspielzeuge verzichtet wird, damit die Kinder ermutigt sind, selber kreativ zu werden. So werden sie auf sich selbst, ihre Ideen, Bedürfnisse und Wünsche zurückgeworfen.
Das Projekt entstand ursprünglich aus der Suchtprävention. Kinder lernen heute schon sehr früh, im Konsum eine Ersatzbefriedigung zu sehen. Ersatzbefriedigung entsteht, wenn ein Bedürfnis vorliegt, das nicht befriedigt werden kann und dieses unbefriedigende Gefühl durch Konsum, zum Beispiel einer Substanz, erträglicher gemacht oder mit einer Handlung überdeckt wird – in diesem Fall mit Spielen. Ein Beispiel: Das Kind fällt hin. Statt es zu trösten, gibt man ihm Schokolade. Wenn das Kind lernt, sich durch Süssigkeiten über negative Situationen hinwegzutrösten, hat es gelernt, eine negative Situation durch Konsum auszugleichen. Die wahren Bedürfnisse sind aber nicht erfüllt worden. Wenn das häufig passiert, ist es einem Kind unter Umständen nicht möglich zu lernen, wie es seine Bedürfnisse befriedigen kann.
Fazit der Beobachtungen
Beim «Spielzeugfreien Kindergarten» sollen die Kinder erfahren, dass es andere Wege gibt, Probleme zu lösen, als sich abzulenken. Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl werden gestärkt und die Lebenskompetenzen gefördert.
Während der drei Monate «Spielzeugfreier Kindergarten» besuchte die Schreibende alle zwei Wochen den Kindergarten. Dabei hat sie Folgendes bemerkt: Die Kinder gingen mehr aufeinander zu, trauten sich eher, für sich einzustehen. Die Gruppendynamik änderte sich, neue Freundschaften wurden geschlossen. In vielen Dingen sind die Kinder selbstsicherer geworden. Sie holten sich, was sie brauchten, oder fragten danach.
Vor allem der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, es sprudelte nur so vor Ideen. Da wurde ein Wäscheklammer-Wettspicken durchgeführt, dort ein aufgehängtes weisses Leintuch zum Theater erklärt oder Fahrzeuge aus nur einem Brett und vier Rädern kreiert. Der Fokus der Kinder verschob sich immer mehr auf die «Gspänli» als auf die Materialien. Die Kinder unterstützten sich gegenseitig, schwächere wurden motiviert statt ausgeschlossen.
Auch für die Kindergärtnerinnen war es eine grosse Umstellung. «Wir hatten nur noch die Beobachterrolle», erklärten sie, «es wurden mehr Rollen- und Fantasiespiele gespielt als Regelspiele, die Kinder versteckten sich nicht mehr hinter den Spielsachen.» Auf die Frage, wie sich das Spiel verändert habe, meinten sie: «Es war insgesamt intensiver. Die Kinder schlüpften in ihre Rollen und nahmen ihre Umgebung kaum noch wahr. Sie waren weniger sprunghaft und entwickelten viele Spielideen selber. Sie bewegten sich viel mehr und wurden mutiger.»
An den Elternabenden (während des Projekts gab es drei) äusserten sich alle anwesenden Eltern positiv und zeigten sich teilweise überrascht über die Veränderung ihrer Kinder. Eine gemeinsame Feststellung war, dass die Kinder sich mehr bewegten und mittags zwar hungriger, aber entspannter und müder nach Hause kamen. Sie verhielten sich teilweise – zum Leidwesen gewisser Eltern – selbstständiger und sicherer und wollten Dinge selbst entscheiden, die nicht von Kindern entschieden werden können.
Mit dem «blauen Stuhl» lernten die Kinder ausserdem, mit Konfliktsituationen spielerisch umzugehen: Ein Kind klingelt ein Glöckchen und setzt sich auf einen blauen Stuhl. Sofort unterbrechen alle das Spiel, kommen eifrig zum Kind gerannt und lassen sich im Halbkreis nieder. Es wolle gerne die Rollladen herunterlassen, erklärt jenes Kind. Wer ist dafür? Die Mehrheit streckt auf. Demokratisch wird entschieden, jetzt wird dunkel gemacht. Alle scheinen damit einverstanden zu sein und spielen vergnügt weiter.
Es dauert nicht lange, da klingelt das Glöckchen erneut – ein anderes Kind sitzt auf dem Stuhl. Wieder kommen alle ohne Ausnahme herbeigeeilt und setzen sich im Halbkreis hin. Aufmerksam schauen sie zum Kind auf. Es wolle wieder hell haben, sagt dieses leise. Jetzt hätten sie soeben dunkel gemacht, was könnte man tun, damit beide Seiten wieder zufrieden seien, fragt die Kindergärtnerin in die Runde. Längere Zeit ist es mucksmäuschenstill. Dann kommen erste Vorschläge, die das Kind auf dem blauen Stuhl aber nicht überzeugen. Schliesslich einigen sich die Kinder auf fünf Minuten hell, fünf Minuten dunkel. Die Kindergärtnerin wird die Zeit jeweils ansagen. Damit sind alle zufrieden und das Spielen geht weiter – ganz ohne Spielsachen.