Die Computermaus gegen die Heugabel getauscht
15.08.2019 Kultur, Natur, RegionIsenthal im Kanton Uri | Ein freiwilliger Arbeitseinsatz hoch oben auf der Alp
Einmal auf einer Alp mithelfen – das wärs doch. Doch kann, soll man als Ü60 auf ein solches Wagnis eingehen? Ein Selbstversuch.
Robert Bösiger (Text und ...
Isenthal im Kanton Uri | Ein freiwilliger Arbeitseinsatz hoch oben auf der Alp
Einmal auf einer Alp mithelfen – das wärs doch. Doch kann, soll man als Ü60 auf ein solches Wagnis eingehen? Ein Selbstversuch.
Robert Bösiger (Text und Bilder)
Schon die Anreise zum Hof Horlachen in Isenthal im Kanton Uri ist abenteuerlich. Zunächst gehts mit dem Zug und später – von Flüelen aus – mit dem Bus die vor mehr als einem Jahrhundert in den Fels gehauenen steilen Haarnadelkurven hinauf nach Isenthal. Die letzten Kilometer ab Isleten am Vierwaldstättersee winden sich fast 800 Meter hoch. Ist das Postauto unterwegs, verträgt es keinen Gegenverkehr – einfach deshalb, weil die Strasse zu eng, die Serpentinen zu atemberaubend sind.
Isenthal ist mit gut 500 Einwohnern eine bevölkerungsmässig kleine Gemeinde, flächenmässig aber mit 61 Quadratkilometern fast drei Mal so gross wie der Kanton Basel-Stadt. Umgeben von hohen Bergen liegt das Dorf auf 780 m ü. M. dort, wo sich das Isenthal in das Gross- und Kleintal teilt. Der Isenthalerbach fliesst durch das enge Tobel hinunter zum Urnersee (434 m ü. M.).
Mit der Holzkiste hinauf
Der Postauto-Chauffeur lässt mich an der Haltestelle Schluchen aussteigen. Da sei das Bähnli, mit dem ich zum Hof hinaufkommen werde, berichtet er mir. Bähnli? Tatsächlich: Nach wenigen Minuten finde ich ein Haus; davor wartet eine luftige Holzkiste auf mich. Ein Telefonanruf nach oben mittels einer Kurbel, und schon setzt sich das Gefährt gemächlich in Bewegung. Auf einem angebrachten Täfeli heisst es: «Traglast entweder zwei Personen oder Material bis 200 Kilogramm.» Wenn das bloss gut geht …
Es geht. Nach zirka zehn Minuten Fahrt – zugegeben, mit einem leicht mulmigen Gefühl im Bauch – dockt die Kiste oben an. Nun nur noch aussteigen und etwa 50 Meter zum Bauernhaus gehen, und schon werde ich freundlich begrüsst von der Bäuerin Graziella Herger. Und sogleich zum Mittagessen eingeladen. Hier werde ich also die nächsten Tage verbringen und auf dem Betrieb mithelfen.
Tage später, beim Rechen frischen Heus – mein erklärter und unangefochtener Lieblingsduft! – tragen mich meine Gedanken zurück in eine Zeit, als ich mehrfach als «Teenie» auf dem Hof meiner Gotte Hedi in Willisau in den (Arbeits-)Ferien war. Landdienst hiess das damals. Und ich habe diese Wochen auf dem Hof geliebt.
So versuche ich die beiden Einsätze – damals Ende der 1960er-Jahren und heute – zu vergleichen. Ob das überhaupt möglich ist? Einen Versuch ist es wert. Also:
Tagwache und Verpflegung
Während wir in Willisau in der Regel schon deutlich vor 6 Uhr morgens im Stall standen, um zu melken, zu füttern und zu misten, finden sich die Akteure auf der Alp erst gegen 7 Uhr in der Küche ein, wo das Morgenessen wartet. Brot, Butter und Konfi, und der beliebte Pulverkaffee Incarom aus Zichorie. Der Bauer Andreas, kurz Res, meist schon in Überhosen, bevorzugt ein grosses Mucheli mit warmer Milch, in der er etwa sieben gehäufte Löffel Schoggipulver auflöst. Apropos Milch: Diese kommt hier ganz profan aus der Gugge, weil es auf Horlachen schon seit vielen Jahren keine Milchkuh mehr gibt.
In Willisau hingegen gab es erst nach 9 Uhr morgens das Zmorge – dann aber währschaft mit Rösti und Käse, mit selbstgebackenem Brot, Butter und eigenem Honig. Zunächst musste der Stall gemacht und die soeben gemolkene Milch mit Ross und Wagen zur Milchabnahmestelle gebracht sein. (Ich erinnere mich gut, wie uns auf dem Weg zur Annahmestelle immer ein Schwarm Brämen verfolgt hatte.) Selbstverständlich war die Milch früher immer aus dem eigenen Stall – mit köstlicher Rahmschicht obenauf.
Je nach bevorstehender Arbeit wird der Rucksack auf dem Alpbetrieb nach dem Morgenessen gepackt. Auf den Weg Richtung der gut 400 Meter höher gelegenen Alpweiden kommen mit: Brot, Käse (aus der Käserei), Trockenfleisch und Trockenwurst aus eigener Herstellung, dazu etwas Süsses vom Bäcker oder Mini-Biberli. Sirup, Kaffeepulver und Zucker hat es in den Alphüttli oben, und frisches Quellwasser zum Erhitzen sowieso. So kann es vorkommen, dass die Älpler erst abends – oft erst mit dem Sonnenuntergang – auf den tiefer gelegenen Hof zurückkehren.
Auf dem Hof meiner Gotte kamen solche Ganztageseinsätze zuweilen auch vor, doch eher selten. Statt eines Mittagessens gab es an solchen Tagen ein zünftiges Zvieri. Die Bäuerin brachte in ihrem Korb Brot, Käse, Süssigkeiten, gekühlten Tee oder stark verdünnten Rotwein (ja, auch für mich als Minderjährigen) aufs Feld oder in den Wald. Dort wurde die Stärkung auf einem ausgebreiteten Tuch gereicht.
Anbau und Zucht
Vor Jahrzehnten war es noch gang und gäbe, dass die Bauernhöfe breit aufgestellt waren. So auch jener meiner Gotte: Im Sommer mussten die Kirschen gepflückt, die Frucht (Gerste, Weizen, Hafer) geerntet, das Heu und das Stroh eingefahren werden. Dazu kamen der Mais und im Herbst die Runkeln bzw. die Futterrüben. Und der Wald gab auch zu tun – vor allem in der kalten Jahreszeit.
Auf dem Hof hatte es damals Milchkühe, Rinder und Kälber. Dazu zwei Pferde, die für die tägliche Arbeit buchstäblich eingespannt wurden. Während sich mein Onkel Fritz um diese Tiere kümmerte, kümmerte sich Gotte Hedi – neben Haushalt und stattlichem Bauerngarten – um die Schweine und den Hühnerstall. Der Onkel hingegen besuchte oftmals am Wochenende das Bienenhäuschen, schaute – mit qualmender Tabakpfeife im Mundwinkel – nach seinen Bienenvölkern; hie und da wurde der Honig geschleudert – ein faszinierendes Handwerk. Unvergessen, wie mein Onkel gelegentliche Bienenstiche stoisch ignorierte.
Auf dem Alpbetrieb handkehrum hält Bauer Res seit Jahren keine Milchkühe mehr. Erstens hat er längst auf Bio umgestellt, verzichtet also konsequent auf den Einsatz von Antibiotika. Und zweitens konzentriert er sich auf die Haltung von schwarzen Angusrindern sowie auf die Züchtung der schottischen Hochlandrinder. Die rot-braunen «Schotten» mit ihren typischen, weit ausladenden Hörnern und «Langhaarfrisur» sind gut zu halten. Beide Rassen eignen sich gut, dass man sie von Frühjahr bis Herbst draussen weiden lassen kann.
Auch, weil auf einem Alpbetrieb keine Felder bewirtschaftet werden müssen, ist die Pflege der Alpwiesen so wichtig (geworden). Der Alpbauer benötigt nicht fette Wiesen, sondern solche, die vielfältiges, qualitativ hochstehendes und schmackhaftes Futter garantieren. Dafür tut er einiges und wartet zum Beispiel beharrlich mit dem Mähen, bis die Gräser ausgereift sind.
Geräte und Maschinen
Am besten zeigt sich der Lauf der Zeit in der Landwirtschaft wohl bei der Mechanisierung. Schon mein Onkel brauchte kaum mehr Sense und Wetzstein, sondern konnte auf seine Mähmaschine zählen. Und auch auf der Alp ist der Brielmayer-Balkenmäher im Einsatz, ausgerüstet mit breiten Rädern und gespickt mit Stachelwalzen, um selbst an steileren Hängen noch mähen zu können.
In Willisau wurde das Heu während meinen ersten Landdiensten noch von Hand gezettelt und gewendet. Ebenso waren das Rechen und das Mädlimachen Handarbeit. Ja, und am Tag des Heueinbringens kamen erneut die beiden Pferde zum Einsatz. Sie wurden vor einen hölzernen Wagen gespannt, auf den dann mit Gabeln das Heu gestapelt und ins Tenn verfrachtet wurde.
Schon bald kamen die ersten Ladewagen für Traktoren zum Einsatz, mit denen man je nachdem Gras, Heu oder Stroh im Einmannbetrieb aufladen konnte. Welch eine Erleichterung. Solches Gerät ist mittlerweile auch auf Alpbetrieben nicht mehr wegzudenken. Von Hand zusammengerecht wird zwar noch, aber immer häufiger kommen lärmende und stinkende Laubbläser zum Einsatz. Die gebotene Bequemlichkeit mag ein überzeugendes Argument sein, allerdings setzen diese Geräte der Wiesenflora zu und vermindern die Artenvielfalt, wie ein Forschungsprojekt des Bundes zeigt.
Die Topographie lässt sich durch technische Errungenschaften nur bedingt «überlisten». So bleibt dem Älpler und seinen Helfern auch heutzutage nichts anderes übrig, als im Spätsommer an hoch gelegenen Steilwiesen von Hand zu heuen. Wildheuen nennt sich diese nicht ungefährliche Form der Heuernte. Die in Netzen gebündelten, rund 50 Kilogramm schweren Heuballen («Burdi») werden in der Regel mit einem Haken an einem Drahtseil zu Tal gelassen.
Familienbande
Das Bauernleben vor 50 Jahren war noch personalintensiver. Auf dem Hof meiner Gotte in Willisau Land lebten drei Familienmitglieder. Dazu kamen in der Regel ein Knecht, hie und da Landdienstler und – je nach Arbeit – zusätzliche helfende Hände aus der näheren Verwandtschaft.
Auf dem Horlachen wohnen drei Generationen: Der Bauer Res mit seiner Frau Graziella lebt im Parterre des neuen Hauses. Im ersten Stock wohnt der Sohn Andreas mit seiner Frau Angelina und den beiden kleinen Kindern. Und im Dachgeschoss darf der Gast – also auch ich – hausen. Zuweilen kommen noch die Tochter des Hauses, Angela, samt «Schwiegersohn auf Probe» Raphael zu Besuch; dann packen auch sie mit an.
Interessant gestaltet sich das Zusammenleben allemal. Mit jedem Tag gibt der Bauer einen Fingerbreit seiner Deutungshoheit an die junge Generation ab: Der Sohn und vor allem dessen Frau Angelina, die kürzlich mit Bravour das Diplom als Landwirtin geschafft hat, reden und bestimmen mit, was auf dem Hof getan und gelassen wird. Da kann sich zuweilen durchaus auch einmal eine kleine Generationenkluft auftun, was Ansichten und Überzeugungen anbelangt. Aber nichtsdestotrotz hält die Familie zusammen.
Gutes tun – auch sich selber
Sowohl anno dazumal als auch heute hat der Bergeinsatz geholfen. Natürlich der Bauernfamilie, die zwei Hände mehr zur Verfügung hat, die anfallenden Arbeiten zu erledigen. Aber – und vor allem – mir selber: Einmal für ein paar Tage weg vom Computer und der Maus, hin zum Werkzeug. Etwas Sinnvolles draussen mit den Händen werken, die gute Luft einatmen, den Alltagsstress vergessen, aber gleichzeitig den eigenen Körper zuweilen bis an die Grenze fordern. Das tut gut, befreit und bereichert.
Ein Letztes: Jemand hat einmal im Buch «Neues Handbuch Alp» (zalpverlag; Mollis) treffend geschrieben: «Das Schwerwiegendste, das einem Älpler im Sommer widerfahren kann, ist die andauernde Konfrontation mit sich selbst. Eigene Schwächen und Einsamkeit lassen sich in der Menschenleere nicht verdrängen, nur bewältigen.» Ansatzweise habe ich diese Konfrontation mit mir selbst auch erlebt, dies aber überstanden, indem ich auch neue Freunde gefunden habe. So habe ich eine wunderbare Woche erlebt. Darüber hinaus hat ein in «meiner» Alpwoche frisch geborenes Schottenmuneli meinen Namen erhalten. Ich bin gerührt.
Der Autor hat in der letzten Juniwoche einen freiwilligen Bergeinsatz in Isenthal UR geleistet – zum ersten, aber vermutlich nicht zum letzten Mal.
Caritas Bergeinsatz
rob. Via Caritas können Freiwillige im Alter zwischen 18 und 70 Jahren Bergbauernfamilien unterstützen, die zuweilen in eine stark belastende Arbeits- und Lebenssituation geraten sind. Bei einem Bergeinsatz arbeitet die oder der Freiwillige während einer vereinbarten Zeit mit, mindestens aber während fünf Tagen. Der Einsatz ist selbstredend unentgeltlich. Die Bergbauernfamilie gewährt während des Einsatzes dafür Unterkunft und Verpflegung. Dies erfordert vom oder von der Freiwilligen Bereitschaft, sich in den Familienalltag und die Familienkultur zu integrieren. Mit der nötigen Offenheit kann ein solcher Bergeinsatz zu einem bereichernden und spannenden Erlebnis werden. Aber Vorsicht: Mit Ferien darf ein Bergeinsatz nicht gleichgesetzt werden.
Pro Jahr (Zahlen aus dem Jahr 2018) kommt es nach Angaben von Silvano Allenbach, Facharbeiter Caritas-Bergeinsätze, zu rund 1170 Wochen Bergeinsätzen, geleistet von 850 Freiwilligen. Rund 65 Prozent der Freiwilligen stammen aus der Schweiz, zirka 30 Prozent aus Deutschland und 5 Prozent aus den übrigen EU-Ländern. Je hälftig sind die Freiwilligen Männer und Frauen, die im Durchschnitt eine Woche Einsatz leisten. Gemäss Allenbach stammen die meisten der Freiwilligen aus dem Dienstleistungssektor und aus eher urbanen Gebieten; dies deutet darauf hin, dass man als Freiwilliger nach einem Ausgleich sucht und nach sozialen Kontakten im Berggebiet. Haupteinsatzgebiete sind nach Angaben von Caritas die Zentralschweiz, das Berner Oberland und Graubünden, dazu kommen einige Betriebe im Toggenburg und im Wallis.
Informationen und Anmeldung via www.bergeinsatz.ch