HERZBLUT
25.06.2019 GesellschaftKulturstudien im Regen
Wenn Sport und Kultur im selben Satz oder schon nur im selben Gespräch verwendet werden, geht es meist darum, dass das ein Gegensatz sei. Und oft geht es um Geld. Warum den Fussball unterstützen, wo Ronaldo und Co. doch so viel verdienen? ...
Kulturstudien im Regen
Wenn Sport und Kultur im selben Satz oder schon nur im selben Gespräch verwendet werden, geht es meist darum, dass das ein Gegensatz sei. Und oft geht es um Geld. Warum den Fussball unterstützen, wo Ronaldo und Co. doch so viel verdienen? Warum ein Orchester in Basel finanzieren, wo ich nie hingehe?
Ich halte Kultur und Sport nicht für gegensätzlich. Sport kann gar helfen, die Kultur eines Landes zu erklären. Sind wir ehrlich: Es ist nicht nur sportliches Interesse, das die Besucher des Eidgenössischen Schwingfestes im Sommer nach Zug in eine Arena für mehr als 56 000 Zuschauer lockt. Und wer das Eidgenössische Turnfest in Aarau besucht hat, erlebte nicht nur sportliche Leckerbissen, sondern sah eine Art Schweizer Kultur.
Meine jüngste Entdeckungsreise hat mich nicht nach Aarau geführt, sondern nach Wales und Southampton. Es gibt wohl keinen besseren Ort, britische Kultur zu erleben, als ein Cricket-Stadion. Ich muss Cricket hier nicht in aller Ausführlichkeit erklären. Nur so viel: Nein, es dauert nicht immer fünf Tage, und nein, es ist nicht langweilig. Aktuell läuft die Weltmeisterschaft in einer Form, in der ein Spiel mit Pausen etwas mehr als sieben Stunden dauert: Die WM in den One-Day-Internationals.
Die Geschichte des Cricket-Sports ist eine Geschichte Grossbritanniens. Die stolzen Kolonialisten trugen das Spiel in ihre eroberten Gebiete. Für die unterworfenen Völker war es ein Ansporn, sich gegen die Besatzer in deren Spiel durchzusetzen. Der Sport verbreitete sich im ganzen Commonwealth. Und so spielen aktuell an der WM eben nicht Deutschland und Frankreich, sondern Länder wie Indien, Pakistan, Australien oder Südafrika. Und es passierte, was in anderen Sportarten, auf welche die Engländer ebenso stolz sind, auch passierte: Das selbst ausgerufene Mutterland des Fussballs zählte an Weltmeisterschaften wohl ebenso oft zu den Favoriten, wie es sich blamiert hat. Im Rugby zeigen die neuseeländischen Kiwis und allgemein die Teams der Südhemisphäre den Europäern schon seit Längerem, wo der Hammer hängt. Im Cricket schliesslich ist Indien sportlich und vor allem wirtschaftlich eine Macht, welche die Strukturen der Sportart dominiert.
Seit die Engländer die Weltmeisterschaft im eintägigen Cricket ins Leben gerufen haben, hagelte es Blamagen. Die West Indies, ein Team mit Spielern aus Karibikstaaten wie Jamaika oder Barbados, demütigten die Engländer und zeigten schon 1975 und 1979: «Alte Welt, wir haben dich überholt.»
Wer in einem Cricket-Stadion sitzt, erfährt britische Kultur. Vom Stolz, einmal das grösste Reich der Welt gewesen zu sein, über die herrliche Ironie, welche die Menschen vielleicht eben gerade auszeichnet, weil sie nicht mehr die Grössten sind, bis zur grossen Bedeutung des Wetters: Das ist alles very British. Denn wenn es regnet, wird nicht gespielt. Auch das im Notfall fünf Tage lang.
Sebastian Wirz, Sportredaktor «Volksstimme»