«Wir sind Breitensport»
12.06.2019 Baselbiet, Turnen, Sport
Sebastian Wirz
Herr Leber, es gibt sehr viele Turner. Es gibt einige, die sich für ein Vorstandsamt zur Verfügung stellen. Es gibt wenige Menschen, die Vereinspräsident werden wollen und noch weniger, die im Bezirksturnverband Präsident werden ...
Sebastian Wirz
Herr Leber, es gibt sehr viele Turner. Es gibt einige, die sich für ein Vorstandsamt zur Verfügung stellen. Es gibt wenige Menschen, die Vereinspräsident werden wollen und noch weniger, die im Bezirksturnverband Präsident werden wollen. Wer wird dann noch Präsident im Kantonalverband?
Martin Leber: Ich war schon immer Turner und dann oft Speaker an Anlässen des TV Sissach. Beim kantonalen Jugendturnfest 1994 hatte der damalige Präsident der Jugendturnkommission im Kantonalverband die Hüfte operiert und sass dementsprechend den ganzen Tag neben mir. Er hat mich bearbeitet, bis ich sagte: «Also gut.» Schon war ich in der Turnkommission Knaben, später Präsident der Turnkommission Jugend. Nach 13 Jahren hatte ich genug. Als Gerry Knecht einen Nachfolger suchte, sagte ich: «Wenn du in einem Jahr noch niemanden hast, kannst du dich wieder bei mir melden.» Das war natürlich mein Todesurteil. Danach hat der gar nicht mehr gesucht. (Lacht.)
Viele Vereine und Verbände haben Schwierigkeiten bei der Besetzung von Ehrenämtern. Die Bezirksturnverbände Liestal und Arlesheim gibt es nicht zuletzt deshalb nicht mehr.
Das ist kein turnerisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Und ich muss sagen: So schlecht haben wir es gar nicht hinbekommen. Es gelingt uns vor allem, nicht irgendjemanden, sondern gute Leute zu finden. Wer sich engagieren will, findet immer eine Möglichkeit. Die Frage ist nur, ob man die richtigen Leute hat. Sonst hat man Funktionäre, die einfach Funktionäre sein wollen. Dagegen kämpfe ich an. Ich habe lieber keinen als jemanden, der da ist und nichts tut. Wir haben im Vorstand ein gutes Team beieinander. Es gibt zwar noch Lücken, aber die werden wir schliessen.
Nur sind die Turner nicht ganz gleichmässig verteilt. Im Unterbaselbiet gibt es keine Bezirksturnverbände mehr. Der BLTV-Vorstand besteht fast ausschliesslich aus Vertretern des BTV Sissach. Vor gut zwei Wochen haben zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder Kantonale Meisterschaften (KMVW) im Waldenburgertal stattgefunden.
Der BTV Sissach ist natürlich am besten aufgestellt im Kanton. Dahinter kommt das Laufental, auch wenn es nicht im Kantonalvorstand vertreten ist. Die Waldenburger kämpfen noch etwas mit sich selber. Sie haben noch keine Turnfeste organisiert. Aber diese KMVW in Oberdorf sollten ihnen Mut machen. Diesen Anlass haben sie sehr gut organisiert, auch wenn sie es zum ersten Mal getan haben. Waldenburg ist ein relativ kleiner Bezirk, aber da gibt es sehr aktive und starke Vereine. Die KMVW waren für mich ein Musterbeispiel dafür, dass auch kleinere Vereine einen solchen Anlass durchführen können. Es war alles da, was es braucht, und alles lag so nah beieinander. Zusammen mit dem schönen Wetter war das ein toller Sonntag.
Morgen startet das Eidgenössische Turnfest. Das ist eine Möglichkeit für einen nationalen Vergleich. Wie geht es also dem Baselbieter Turnen?
Der BLTV ist gesund. Unsere Mitgliederzahlen sind leicht steigend. Mit 19 000 Mitgliedern sind wir der grösste Sportverband der Nordwestschweiz. Das geht oft vergessen – auch schweizweit, wo der Schweizerische Turnverband den grössten Verband stellt. Ein gutes Drittel unserer Mitglieder sind Junge, vielleicht 40 Prozent sind Aktive und der Rest sind Nichtturnende. Die sind aber auch wichtig.
Sind die Turner denn aktiver oder weniger aktiv als vor einigen Jahren?
Das ändert von Verein zu Verein und hängt immer damit zusammen, wer am Ruder ist. Wenn man es am ETF 2019 misst, ist die Entwicklung erfreulich: 2013 in Biel waren 2200 Erwachsene und 1200 Jugendliche aus dem Baselbiet mit dabei. Nun sind 2400 Erwachsene und 1800 Jugendliche angemeldet. Das sind beim Nachwuchs 50 Prozent mehr. Das ist ein Erfolg, auch wenn es sicherlich einen Einfluss hat, dass Aarau näher liegt als Biel. Der BLTV wird am ETF als einziger Kantonalverband einen eigenen Stand haben. Hier können sich Baselbieter treffen. Wir werden Präsenz zeigen und Werbung machen: 2021 gibt es mindestens zwei gute Gründe, weshalb ein Turner die Nordwestschweiz besuchen muss. Die Europameisterschaften im Kunstturnen im April in Basel und das Kantonalturnfest im Laufental. Wir haben über Jahre kommuniziert, dass es unser Ziel ist, mehr Baselbieter Teilnehmer am ETF zu haben. Und der Appell wurde erhört: Der BTV Sissach unterstützt seine Turner finanziell, indem er die Festkarten subventioniert, also einen Teil des Startgelds übernimmt.
Hat der höchste Baselbieter Turner auch sportliche Erwartungen an seine Schäfchen?
Natürlich würde es uns freuen, wenn wir gute Resultate hätten. Aber hier haben wir keine Messlatte. Im Unterschied zu anderen Kantonen ist der Spitzensport im Baselbiet nicht beim Turnverband angegliedert, sondern beim NKL. Der BLTV ist ein klassischer Breitensportverband und das Turnen ist klassischer Breitensport. Ich habe schon im Verein immer diese Einstellung vertreten: Wir gehen lieber mit mehr Turnern an einen Anlass, auch wenn wir dadurch weniger gut abschneiden.
Geht es für Sie bei einem Wettkampf nicht darum, der Beste zu sein?
Wir sind Breitensport. Da ist es der Ehrgeiz jedes Einzelnen, besser zu sein als beim vorigen Mal. Natürlich will man als Verein auch besser sein als das Nachbardorf – wenn ich an jahrzehntealte Duelle wie zwischen dem TV Buus und dem TV Maisprach oder anderen denke. Aber es geht nicht primär darum, wer Erster und Zweiter ist. Für uns ist die Breite wichtig, der olympische Gedanke: Mitmachen kommt vor Gewinnen.
Wir reden über leicht steigende Mitgliederzahlen, über Probleme, Vorstandsfunktionen zu besetzen, und eine Konzentration der Turnerschar auf dem Land. Wie sieht das turnerische Baselbiet in Ihren Augen am überübernächsten «Eidgenössischen» in 12 Jahren aus?
Turnvereine wird es auch dann noch geben. Ob es überall dieselben Vereine sind, weiss ich nicht. Ob es in der Stadt eine andere Entwicklung gibt als in der Landschaft? Wahrscheinlich ja. Das hat mit der Kleinräumigkeit zu tun. In Basel-Stadt macht Riehen Leichtathletik, der Bürgerturnverein Geräteturnen, Kleinhüningen Spiele – der Basler sucht sich den Verein aus, der seine Disziplin anbietet. Auf dem Land hingegen gehst du halt in den TV deines Dorfs.
Wird das in Zeiten der Individualisierung und der Spontanität des nächstgelegenen 24-Stunden-Fitnessstudios so bleiben?
Wenn ich nur fit sein will, gehe ich ins Fitnesscenter. Aber es interessiert dort niemanden, ob ich trainiere oder nicht. Wenn ich im Verein fehle, fragt mich spätestens am Tag danach einer, wo ich gewesen bin. Unsere Stärke ist nicht nur der Sport. Natürlich ist er wichtig, aber es geht vor allem um das soziale Netz. Gerade wenn ich an die Entwicklung mit den sozialen Medien denke, wo Menschen noch mehr vereinsamen und nicht mehr aus dem Haus kommen, weil sie am Computer, am Handy – oder welchen Geräten da auch immer noch kommen mögen – hängen: Dann wird dieser Aspekt noch wichtiger. Vereine bringen ihre ältesten Mitglieder an Delegiertenversammlungen. Die Turnveteranen holen Mitglieder ab und besuchen gemeinsam Turnfeste. Man geht nicht vergessen. Das ist unsere Kernkompetenz. Und die verlieren wir nicht so schnell, nur weil sich die Gesellschaft ändert. Aber wir müssen diese Kultur bewusst pflegen.
Was ist Ihr persönliches Highlight am ETF in Aarau?
Ich empfehle jedem: Geh am ersten Wochenende! Da siehst du einerseits die Jugend und andererseits die Einzelturner. Das bedeutet zum einen Fröhlichkeit und Farbigkeit sowie gleichzeitig Spitzenleistungen. Ich will das Vereinsturnen nicht abwerten, aber am ersten Wochenende sieht man zugleich die Zukunft und das aktuell Beste, was das Schweizer Turnen zu bieten hat.
Alle sechs Jahre wieder
boa. Das Eidgenössische Turnfest findet seit 1832 statt. Im Jahr 1972 wurde der aktuelle 6-Jahres-Zyklus eingeführt, zuvor fanden die Turnfeste unregelmässig statt. Das ETF ist der grösste Breitensportanlass in der Schweiz. In diesem Jahr findet es zum 76. Mal statt, bereits zum siebten Mal in Aarau. Das Fest startet morgen mit Einzelgeräteturnen, Leichtathletik und Turnwettkampf. Am Nachmittag wird dann die Zentralfahne empfangen. Diese wird jeweils vom vorherigen Austragungsort überreicht, also in diesem Jahr von Biel. Am Abend folgt die offizielle Eröffnungsfeier im Stadion Schachen in Aarau. Am ETF werden 108 Disziplinen durchgeführt. Von Leichtathletik über Geräteturnen bis zu Spielen wie Faustball und Indiaca ist alles vertreten und dies für alle Altersklassen. Während zehn Tagen messen sich die Athleten. Am 23. Juli geht der Grossanlass mit der Abschlussfeier im Aarauer Brügglifeld zu Ende.
Zur Person
wis. Martin Leber ist im TV Sissach gross geworden. Nach einigen Jahren als Jugendriegeleiter übernahm er ein Amt im Vorstand des Baselbieter Turnverbands. Seit 2014 ist er Kantonalpräsident. Der 51-Jährige arbeitet als Gerichtsverwalter des Kantons Baselland und wohnt mit seiner Familie in Sissach. Am ETF in Aarau nimmt Leber mit der Männerriege Sissach teil und begleitet seine Töchter, die ebenfalls beim TV Sissach aktiv sind.