«E schtilli Chraft lit i däm Chleid …»
01.06.2019 Bezirk Sissach, OltingenAm 6. Juni feiert die Schweiz den Tag der Tracht. Marianne Gysin-Handschin aus Oltingen ist eine der wenigen, die noch wissen, wie man eine Baselbieter Tracht näht. Mit dem Auftrag, die zwölf Ehrendamen am Eidgenössischen Schwingfest 2022, Esaf, in Pratteln einzukleiden, hat sie schon jetzt ...
Am 6. Juni feiert die Schweiz den Tag der Tracht. Marianne Gysin-Handschin aus Oltingen ist eine der wenigen, die noch wissen, wie man eine Baselbieter Tracht näht. Mit dem Auftrag, die zwölf Ehrendamen am Eidgenössischen Schwingfest 2022, Esaf, in Pratteln einzukleiden, hat sie schon jetzt alle Hände voll zu tun.
Yvonne Zollinger
In der Bauernstube auf dem Spielhof in Oltingen hat Marianne Gysin-Handschin diverse Trachten an Ständern und Bügeln aufgehängt. Sie hält eine Festtagstracht hoch. Der fünf Meter lange, akkurat plissierte Stoff des Rocks hängt schwer am Mieder aus Jaquard-Samt. Dreht sich die Tänzerin in diesem Kleid, bläht es sich zur Glocke auf und der rote Unterrock blitzt hervor. «Davon darf ich bis zum Eidgenössischen Schwingfest 2022 in Pratteln zwölf Stück fertig haben», sagt sie und in ihrer Stimme schwingt leiser Stolz mit. Sie soll die Ehrendamen einkleiden, im Auftrag des OK-Präsident des Esaf, Thomas Weber. Eine Auszeichnung. Und eine Herausforderung. Weniger als drei Jahre für zwölf Trachten. Das könnte knapp werden. Vor allem, weil einige Stoffe erst noch gewoben werden müssen.
«Ausgerechnet jetzt geht uns der Stoff für die Jupes aus», sagt Gysin-Handschin. Der spezielle Wolle-Leinen-Stoff wird jeweils von der Trachtenvereinigung Baselland auf Vorrat bestellt und an die Trachtenschneiderinnen abgegeben. Die Handweberei Tessanda in Sta. Maria, Val Müstair, stellt ihn her. Bis Ende Herbst, hofft die Oltingerin, wird die Firma die Ballen liefern können.
Seit frühester Kindheit gehört für Gysin-Handschin die Tracht zu allen wichtigen Tagen und Anlässen im Leben. Ihre Mutter trug die ihre mit Stolz und Selbstverständnis. «Auf den Fotos zu Taufen, Hochzeiten oder anderen Festen sehe ich meine Mutter in ihrer Tracht aus Appenzell Ausserrhoden», sagt Gysin-Handschin. Auch die Grossmutter aus dem Bernbiet habe eine besessen. Diese Familientradition setzt sie fort. Ob zur Hochzeit oder der Taufe ihrer Kinder oder zu sonstigen feierlichen Anlässen: «Mit ihr bin ich einfach immer gut angezogen», findet sie.
Wertigkeit ohne Protz
Wenn Gysin-Handschin ihre Baselbieter Festtagstracht anzieht, dann rechnet sie mit einer halben Stunde, bis alles, vom Unterrock über Mieder, Schultertuch und Schürze, so sitzt, wie es sein soll. Immerhin sind es etwa acht Kleidungsstücke, die korrekt geschnürt, gefältelt, gebunden und drapiert werden müssen. So etwas wie Reiss- oder Klettverschlüsse gibt es bei einer Tracht nicht. Haken und Rigeli halten «Gstältli», Jupe und Brustlatz zusammen und sorgen für den sicheren Halt. Abschluss und Krönung des Ankleideprozederes ist, nach der Begine, dem kleinen Hütchen, das Anlegen des Schmuckes. Am Schürzenbund die Silberkette mit Messerhafte und Schnitzmesser. Am Ausschnitt die Baselbieter-Brosche und an Hals und Armgelenk silberne Filigranblütenketten. Kleid und Schmuck strahlen Zurückhaltung aus, sind in dezenten Farben gehalten und zeugen doch von höchster Kunstfertigkeit. Fast alles ist handgemacht.
Wertigkeit ja, aber ohne protzig zu wirken. «Unsere Tracht kennt keine Showelemente», sagt Gysin-Handschin. Goldschmuck oder glänzende Stoffe seien verpönt. Genauso wie die Trägerin der Tracht weder angemalte Fingernägel noch Make-up tragen sollte, Richtlinien, die die Kantonale Trachtenkommission in den 1930er-Jahren so festgelegt hat. «Natürlich gibt es Frauen, die das nicht so eng sehen. Aber für mich passen knallrote Fingernägel nicht zu einer Tracht.»
Gysin-Handschin ist Puristin, wenn es um die Tracht geht. Ihr Ziel ist es, den Vorgaben treu zu bleiben. Vorgaben, die nur wenig Spielraum für Interpretationen lassen, weder bei den Materialien noch beim Schnitt noch bei der Art und Weise, wie man die Tracht trägt. Ihnen zu folgen ist ihr wichtig. «Nur so sieht die Baselbieter Tracht auch in einigen Jahrzehnten noch so aus, wie wir sie heute kennen.»
Mit Gütesiegel
Der Wunsch, die Tracht nicht nur zu tragen, sondern sie auch selbst herzustellen, entstand an einer Trachtenhochzeit, zu der sie, damals bereits gelernte Damenschneiderin, eingeladen war. «Die wunderschönen Trachten haben mich begeistert», erinnert sie sich. Noch wichtiger aber war, dass sie auf Susi Rychener aus Arisdorf traf, ihre zukünftige Lehrmeisterin. Eineinhalb
Jahre lernte sie bei ihr das Trachtenschneidern. Nebenberuflich, immer montags. Erst nachdem sie je zwei Exemplare einer Festtags-, Sommer- und Wintertracht genäht hatte, die von der kantonalen Trachtenkommission begutachtet und geprüft wurden, erhielt sie den Ritterschlag zur offiziellen Trachtenschneiderin vom Kanton Baselland. «Dieses Gütesiegel war mir sehr wichtig. Ich will nicht einfach eine Damenschneiderin sein, die zufällig noch Trachten näht.» Auch nach der Ausbildung gab es immer wieder Situationen, wo sie auf das grosse Fachwissen von Susi Rychener zurückgreifen konnte. Bis zu deren Tod vor drei Jahren. «Noch heute würde ich sie gerne um Rat fragen, wenn bei einer Tracht eine Frage auftaucht. Ich vermisse sie wirklich sehr.»
Ihr eigenes Wissen gibt sie inzwischen an den einzigen Nachwuchs im Kanton weiter, ihre Tochter Sandra und die Therwilerin Andrea Gschwind. Es gibt wenige, die noch das Wissen haben, wie man sie schneidert. «Es reicht nicht, sich als Damenschneiderin einfach an der Tracht zu versuchen», sagt Gysin-Handschin. Andererseits gibt es im Baselbiet aber auch keine offizielle Ausbildung. Im Idealfall macht eine Schneiderin eine nebenberufliche Weiterbildung. Marianne Gysin-Handschin ist mit 50 Jahren die jüngste Trachtenschneiderin des Kantons. «Alle anderen sind über das Pensionsalter hinaus», weiss sie. «So kann es nicht weitergehen.» Doch wie sollen junge Frauen, oder Männer, zum Trachtenschneidern animiert werden?
Ein kleiner Lichtblick ist, dass sie einen Teil ihres Auftrags an das Couture Atelier in Münchenstein, das Lernende zur Bekleidungsgestalter/-in BFS ausbildet, abgeben kann. 20 Trachtenblusen wurden bereits genäht. Jede Ehrendame soll am Schwingfest drei Blusen zur Verfügung haben. Gysin-Handschins Hoffnung ist, dass so bei der einen oder anderen zukünftigen Berufsfrau das Interesse an der Tracht geweckt werden könnte.
Die Auferstehung der Tracht
«Wenn eine Frau drei Jüppen hat, so hat sie für ihr ganzes Leben genug», sagte der Volksmund im 18. Jahrhundert. Eine Bäuerin hätte sich wohl auch kaum mehr als drei Trachtenröcke leisten können. Der Materialverbrauch für diese war schon damals enorm. Unter den Jupe gehörte der rote Unterrock aus Halbleinen. Im Winter wurden für mehr Wärme zwei bis drei davon übereinander getragen. Unterhosen trug das «Weibervolk» damals keine, schreibt Dominik Wunderlin im Buch «Von Kopf bis Fuss – Trachten im Baselbiet». Schon Anfang der 1800er-Jahre wollten die Jungen nichts mehr mit der altmodischen Tracht zu tun haben. Vor allem auch, «weil die Volkstracht im Baselbiet eine der wenigen Schweizer Trachten war, die sich im 19. Jahrhundert nicht von Modeströmungen beeinflussen liess», so Wunderlin. Sie verschwand, bis auf das «Beginli», das Hütchen, welches sich auf dem Kopf älterer Frauen noch bis in die 1890er-Jahre behaupten konnte.
Die Wiederauferstehung kam Anfang des 20. Jahrhunderts, als man sich in der Schweiz auf Tradition und Heimatverbundenheit besann. 1926 gründeten die Sissacher eine Trachtengruppe. Sechs Jahre später setzten sich führende Köpfe aus Sissach zusammen, um zu bestimmen, woraus eine Baselbieter Tracht zu bestehen habe. So weit wie möglich wurde dabei die überlieferte Tracht als Vorbild genommen. Vor allem den Plisseejupe, den in dieser Form keine andere Tracht der Schweiz besitzt. Bereits um 1932 musste man für eine Festtracht, ohne Schmuck, bis 300 Franken hinblättern. Das konnten sich nur Bessergestellte leisten. Die Landbevölkerung begeisterte sich für die strapazierfähigere Version, die Alltagstracht. In den Geschäften war sie bereits für 30 Franken zu haben.
Etwa gesamthaft 160 Arbeitsstunden stecken in der Fertigung einer Festtagstracht. Der Stoff für die Schürze wird zum Teil noch immer von Hand gewoben. Die prachtvollen Schultertücher mit ihren gestickten Blumenornamenten, der sogenannten Nadelmalerei, sind ebenfalls Handarbeit und richtige Kunstwerke.
«Zurzeit gibt es nur noch einige wenige Stickerinnen, die solche Tücher anfertigen», sagt Gysin-Handschin, und ist damit wieder bei ihrem Zeitplan für das Schwingfest in Pratteln. Zwölf Schultertücher bis 2022 ist kaum machbar. Aber Ausleihen ist ebenfalls keine Option. «Keine Frau gibt dieses Seidentuch als Leihgabe her», sagt sie. Es sei einfach zu wertvoll. Also werden nun Schultertücher, in sehr schönem Zustand, von nicht mehr verwendeten Trachten gesucht.
Der Bestand an Baselbieter Trachten, auf die sie zurückgreifen kann, ist nicht so üppig wie in anderen Kantonen. Mit Wehmut denkt Gysin-Handschin an den Besuch bei einer Trachtenschneiderin aus dem Bernbiet, die eine gut gefüllte Trachtenstube vorweisen konnte. «In Bern gibt es auch eine offizielle Ausbildung zur Trachtenschneiderin», sagt sie. Im Baselbiet wird man wohl auch in Zukunft auf private Initiative angewiesen sein, um den Fortbestand der Tracht zu sichern. «Hoffentlich verleiht das Schwingfest 2022 der Bekanntheit der Baselbieter Tracht einen neuen Schub», sagt Gysin-Handschin.
E schtilli Chraft lit i däm Chleid,
es Band, wo eim a d Heimet bindt.
Me isch e Teil vom Baselbiet,
me isch sy Magd, me isch sys Chind.
Strophe aus einem Gedicht zur Baselbieter Tracht von Lydia Graf-Buess
Tag der Tracht in Muttenz
Am 6. Juni feiern die Trachtenleute des Baselbiets den Tag der Tracht in Muttenz. Gemeinsam wird gesungen und getanzt. Das Publikum ist eingeladen, bei allgemein bekannten Liedern mitzusingen und bei einfachen Tänzen mitzumachen. Das Programm ist ein bunter Mix aus vorgeführten Volkstänzen wie «Dr Seppel», «Muttenzer Polka» oder «Mir wei luege», vom kantonalen Gesamtchor dargebotenen Liedern wie «Gottwilche», «Dorma bain», oder «La Youtse». Es spielt die «Oberbaselbieter Ländlerkapelle». Bei Hunger und Durst steht eine Verpflegung mit Grill, Sandwiches, Getränken, Kaffee und Kuchen bereit.
Tag der Tracht, 18.30 Uhr (nur bei trockenem Wetter), Hauptstrasse 49/51, Tram 14 oder Bus 60 bis Muttenz Dorf.