SÜSS-SAUER
26.04.2019 BaselbietKatastrophe nach dem Tsunami
Yudi rührt verträumt in seinem Cappucino. «Früher, da rannte ich in kurzen Hosen und T-Shirt herum. Alles kein Problem. Heute ist das nicht mehr möglich.» In Banda Aceh geht bei den gemässigten Muslimen die ...
Katastrophe nach dem Tsunami
Yudi rührt verträumt in seinem Cappucino. «Früher, da rannte ich in kurzen Hosen und T-Shirt herum. Alles kein Problem. Heute ist das nicht mehr möglich.» In Banda Aceh geht bei den gemässigten Muslimen die Angst um vor der Scharia-Polizei. Sie achtet darauf, dass Frauen verschleiert sind, kein Alkohol getrunken oder kein vorehelicher Sex praktiziert wird. Frauen dürfen nach elf Uhr abends nicht mehr in Restaurants bedient werden. Zu ihrem Schutz, so heisst es, damit sie auf dem Heimweg nachts nicht vergewaltigt werden.
Wer sich trotzdem nicht verschleiert, dem darf die Scharia-Polizei die Haare abschneiden. Homosexuelle werden auf öffentlichen Kundgebungen mit bis zu 100 Stockschlägen bestraft. Zurzeit wird die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. «Vor 15 Jahren war die muslimische Gesellschaft in Banda Aceh offen und tolerant», sagt Yudi, in dessen Bed & Breakfast wir übernachten. Heute sei alles anders.
Nach unserer Berichterstattung auf der indonesischen Insel Sulawesi nach dem Tsunami im Oktober 2018, interessierte ich mich auf meiner Reise durch Sumatra besonders für die Region, die vor fast 15 Jahren am härtesten vom Tsunami getroffen wurde. Während die westlichen Medien sich vor allem auf die verstorbenen Touristen auf Thailand und Phuket konzentrierten (knapp 5000 Tote), starben in Aceh fast 170 000 Menschen. Yudi erzählt mir, wie er zuerst mit seinem Motorrad, dann zu Fuss vor der 30 Meter hohen Flutwelle flüchtete. Hier weiss jeder eine Geschichte davon zu erzählen. Obwohl vieles wieder aufgebaut wurde, ist das Trauma noch immer spürbar. Einige haben an ihren Häusern den damaligen Wasserstand eingezeichnet.
Aceh ist die einzige Provinz in Indonesien, in der nach Scharia-Recht gelebt wird. Schon Mitte der 1970er-Jahre gab es Aufstände von radikalen muslimischen Separatisten. Der politische Umschwung begann aber erst mit der Katastrophe. Nach dem Tsunami war die Verzweiflung gross, die Menschen brauchten Hilfe, die Regierung war unter Druck und sicherte Unterstützung zu. Ausländische Hilfsorganisationen kamen unkontrolliert nach Aceh. Als ich vergangenes Jahr auf Sulawesi Mitarbeiter der Humanitären Hilfe der Schweiz traf, erzählten sie mir, dass in Aceh auch Organisationen vor Ort waren, die «mehr Schaden anrichteten, als zu helfen». Radikale Organisationen nützen solche Situationen der Schwäche und des Leids schamlos aus. In Aceh haben sie sich mit den Separatisten verbündet.
Der Wiederaufbau hatte Priorität. Die Regierung lenkte 2005 ein und unterzeichnete eine Friedensvereinbarung. Die Rebellengruppe Free Aceh Movement beendete den Unabhängigkeitskampf, im Gegenzug wurde Schritt für Schritt, und per Ende 2015 endgültig, das islamische Recht eingeführt. «Fast 90 Prozent sind gemässigte Muslime hier. Aber niemand traut sich, sich gegen die Scharia auszusprechen», sagt Yudi. Auch er trägt nun lange Hosen, als wir von seinem Haus am Meer in die Stadt fahren.
Der Sissacher Journalist Boris Gygax arbeitet in China für das Schweizer Fernsehen.