HERZBLUT
08.01.2019 GesellschaftDie Festplatte ist voll
Ich bin jetzt in einem Alter, wo ich immer häufiger in der Küche, im Bad oder im Estrich stehe und mich erstaunt frage, was um Himmels willen ich hier eigentlich wollte. Früher ist das auch schon vorgekommen. Aber dann konnte ich ...
Die Festplatte ist voll
Ich bin jetzt in einem Alter, wo ich immer häufiger in der Küche, im Bad oder im Estrich stehe und mich erstaunt frage, was um Himmels willen ich hier eigentlich wollte. Früher ist das auch schon vorgekommen. Aber dann konnte ich einfach zurück zum Ausgangspunkt gehen und meist fiel mir der Grund wieder ein. Heute finde ich nicht mal mehr den Ausgangspunkt. Ich wandere also in der Wohnung umher in Erwartung einer Erleuchtung, die mir zeigt, warum ich losgegangen bin. Oft entdecke ich dabei neue Dinge, die es zu tun gäbe, und ich vergesse, dass ich herumgehe, um mir in Erinnerung zu rufen, was ich ursprünglich im Sinn hatte.
Mein Gehirn, denke ich, ist wie eine Festplatte, die sich mit den Jahren so gefüllt hat, dass sie automatisch Unwichtiges sofort wieder löscht. Das Blöde ist nur, sie entscheidet selbst, was sie für unwichtig hält. Zum Beispiel Namen. Ich vergesse fast augenblicklich jeden Namen, ausser er ist lebenswichtig für mich, wie zum Beispiel der meiner Verkäuferin im Wollladen, oder meiner Coiffeuse. Meine Schwestern, es sind deren gleich drei, haben dieses Problem nicht. Sie erinnern sich an alles, egal wie lange es zurückliegt. Und mir scheint, vor allem an alles, was ich in meiner Jugend, sagen wir mal, angestellt habe.
«Ich habe neulich den Martin W. getroffen», sagt dann vielleicht die eine mit vielsagendem Blick und ich frage dümmlich: «Welchen Martin W.?»
«Sag nur, du kannst dich nicht mehr an ihn erinnern. Du hast mit ihm getanzt an der Fasnacht 1982 in Remigen, im alten Schulhaus, das sie damals gerade umgebaut haben. Du hast das kurze Kleide mit den rosa Schleifen getragen, das du am Tag davor in Basel im Ausverkauf bei C&A für 35 Franken 95 gekauft hast. Erinnerst du dich wirklich nicht? Martin, mit den blonden Locken und dem rosa-blau gestreiften Cowboyhemd. Er ist mit Köbi verwandt, dem Bruder von Schreiners Walti, der um sieben Ecken mit unserem Grossvater bekannt war.»
«Wirklich?», erwidere ich erstaunt. «Ich hatte einen Grossvater?»
Wenn wir Schwestern uns über die Vergangenheit unterhalten, ist mir ungläubiges Kopfschütteln sicher. Aber ich meine: Warum muss ich mich an Martin W. erinnern, der augenscheinlich mehr Eindruck bei meiner Schwester als bei mir hinterlassen hat, wenn es in der Gegenwart so vieles gibt, das meine Hirnleistung in Anspruch nimmt?
Zum Beispiel Geburtstage. Neulich habe ich mich dabei ertappt, wie ich nicht nur den meiner Kinder, sondern auch noch meinen eigenen in die digitale Agenda meines Handys eintrug. Ich nutze auch die Erinnerungsfunktion meines Kalenders und stelle sie so weit voraus, dass ich noch Zeit habe, um ein Geschenk zu kaufen. Leider vergesse ich dann, dass ich erinnert wurde.
Doch es gibt Hoffnung. «Forscher kommen der Vergesslichkeit auf die Spur», habe ich im Wissenschaftsteil einer Zeitung gelesen. Ich werde Ihnen gerne davon berichten. Aber erst muss ich die Zeitung wieder finden.
Yvonne Zollinger, Redaktorin «Volksstimme»