Textilgeschichte als Geschenk
19.10.2018 Baselbiet, Kultur, ZiefenNachlass des Bandfabrikanten Senn und Co. geht an den Kanton
tho. Die Besitzer der ehemaligen Seidenbandfabrik Senn und Co. AG haben beschlossen, den Nachlass des Unternehmens dem Kanton Baselland und dem Wirtschaftsarchiv in Basel zu schenken. Die Wurzeln des Unternehmens ...
Nachlass des Bandfabrikanten Senn und Co. geht an den Kanton
tho. Die Besitzer der ehemaligen Seidenbandfabrik Senn und Co. AG haben beschlossen, den Nachlass des Unternehmens dem Kanton Baselland und dem Wirtschaftsarchiv in Basel zu schenken. Die Wurzeln des Unternehmens reichen zurück ins Jahr 1725. Über 250 Jahre später schloss die Senn und Co. 2001 in Ziefen ihre letzte Produktionsstätte. Das Unternehmen war einst ein bedeutender Arbeitgeber, auch ausserhalb der Fabriken: Zu Zeiten des Ersten Weltkriegs standen rund 1000 Senn-Webstühle in den Baselbieter Stuben.
Jetzt wird der Bestand erschlossen. Die «Volksstimme» durfte nach der Anlieferung des Materials im Liestaler Hanro-Gebäude einen Augenschein nehmen. 40 000 bis 50 000 verpackte Rollen mit zum Teil uralten Bändern lagerten im Archiv. Alle Bändel müssen nun ausgepackt und dokumentiert werden.
Ein Jahrhundertstoff auf dem Weg ins Museum
Der umfassende Nachlass der Bandweberei Senn & Co. wir ei Senn & Co. wird erschlossen
Wir nehmen einen Augenschein auf der «Textilpiazza» im Liestaler Hanro-Gebäude. Hier wurde soeben ein grosser textiler Schatz angeliefert, der nun gehoben wird.
David Thommen
Saskia Klaassen, die Zuständige für die kantonalen Baselbieter Sammlungen bei Archäologie und Museum Baselland, und Historiker Dominique Rudin vom Verein «Textilpiazza Kultur» empfangen die «Volksstimme» ausgesprochen fröhlich. Freude bereitet die Aussicht, ein Stück wertvolle regionale Industriegeschichte für Ausstellungen und Forschung erschliessen zu können. Es ist da aber auch dieses etwas ungläubige Lachen, wenn man vor etwas Grossem steht, dessen Bedeutung man noch nicht ganz erfassen kann.
Wir sind im Gebäude der ehemaligen Liestaler Textilfabrik Hanro. Soeben angeliefert wurde ein Geschenk, das die Eigentümer der ehemaligen Bandfabrik Senn und Co. AG dem Museum des Kantons Baselland und dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel machen wollen. Bevor das Geschenk formell den Besitzer wechseln kann, muss klar sein, worum es sich genau handelt. Im Grundsatz weiss man es, im Detail aber noch längst nicht.
Auf dem Estrich
Es geht um den Nachlass der Traditionsfirma Senn und Co., die im Jahr 2001 in Ziefen ihre letzte Bandweberei geschlossen und damit – sagenhafte 250 Jahre nach den Anfängen des Unternehmens – einen endgültigen Schlussstrich unter ein grosses Kapitel Wirtschaftsgeschichte gezogen hat. Eine Geschichte, welche die Region Basel, gerade auch die ländliche Umgebung, geprägt hat, wie fast keine andere.
Gelagert wurde der Nachlass seit der Schliessung der Ziefner Fabrik vor 17 Jahren auf dem Estrich und im Keller des Senn-Hauptsitzes im Erlacherhof, unweit des Basler Unispitals. Vor Kurzem haben die einstigen «Seidenherren», die ihre Firma längst zum Immobilienunternehmen gewandelt haben, beschlossen, den Nachlass wissenschaftlich erschliessen zu lassen und danach der öffentlichen Hand zu übergeben. Verbunden mit der Bitte, die Hinterlassenschaft den Menschen der Region zugänglich zu machen und eine weiterführende Forschung zu ermöglichen. Senn und Co. AG unterstützt die Erschliessung finanziell und mit dem noch vorhandenen Wissen um das Unternehmen. Ferner gibt es Geld von Stiftungen und von den Lotteriefonds aus beiden Basel.
Wir schlendern durch die ehemalige grosse Hanro-Fabrikhalle. Im offenen Bereich stehen – zumeist noch in Plastik verpackte – grössere Objekte. Ein riesiger alter Schreibtisch mit vier Plätzen, aber auch kleine Objekte wie eine Rechenwalze aus dem mechanischen Zeitalter, oder noch originalverpackte, vor vielen Jahrzehnten hergestellte Reissnägel. Dazu Schachteln mit Webschiffchen, Spindeln und anderem mehr. Bestimmt würden sich irgendwo auch noch Schachteln mit Lochkarten zur Steuerung der Webstühle finden lassen, wenn wir tiefer graben würden. Einen ganzen Webstuhl gibt es im Nachlass nicht. Das grösste Teil aus der Produktion ist eine Lochkartenschlagmaschine.
40 000 bis 50 000 Rollen Band
Der weit spektakulärere Teil des Nachlasses befindet sich weiter hinten in einem etwas abgeschiedenen Teil der Halle. Hier türmt sich eine enorme Kartonschachtelwand bis fast unter die Decke. Viele der Boxen sind seit Jahrzehnten nicht geöffnet, geschweige denn näher untersucht worden. Darin befinden sich lauter kleine Rollen mit Seidenbändern, alle fein säuberlich und einzeln in Papier eingeschlagen. Historiker Rudin lacht wieder: «Es sind nach ersten Schätzungen 40 000 bis 50 000 solcher Rollen.»
Es handelt sich um verschiedene Modelle von Bändern, welche die Senn und Co. in vielen Jahrzehnten ihrer Tätigkeit hergestellt hat. Wie viele verschiedene Designs hier liegen, ist unklar. Möglich ist, dass sich in den Schachteln zum Teil Lagerbestände – also mehrere Rollen mit gleichen Bändern – befinden. Umgekehrt wurden bei Stichproben auch schon Rollen gefunden, auf denen es Abschnitte von mehreren verschiedenen Bandmodellen hat. Klarheit über den Umfang der Sammlung wird man erst haben, wenn sämtliche Rollen gesichtet sind. Mit Bandabschnitten der gesamten Produktionspalette in verschiedenen Farbabstufungen werden sogenannte Liassen erstellt. Das sind geheftete und mit der Produktionsnummer auf einer Etikette versehene Bandbündel, die man unkompliziert anschauen und auch geordnet lagern kann. Pro Bandmodell sollen, falls vorhanden, 85 Zentimeter erhalten bleiben.
Rudin und Klaassen gehen davon aus, dass in den Schachteln «zumindest viele Tausend» Unikate zum Vorschein kommen werden, die einst nach Abschluss der Produktion einer Serie von Zier- oder Nutzbändern fürs Archiv zurückgelegt worden sind. Sehr gespannt darf man darauf sein, bis zu welchem Jahr der Archivbestand zurückreicht. Bei Stichproben wurden bereits originalverpackte und zum Teil gut erhaltene Bandmuster ab dem Jahr 1888 gefunden.
Als sehr nützlich dürften sich bei der Erschliessung die vielen Musterund Produktionsbücher erweisen, welche die Bandfabrik angelegt hat. In den Produktionsbüchern wurde fein säuberlich in Schönschrift beschrieben, aus welchen Materialien und in welcher Webtechnik und zu welcher Zeit ein Band entstanden ist. Eingeklebt ist jeweils auch ein kurzes Stück des Bandes. Klaassen und Rudin haben bereits festgestellt, dass bei Senn sehr genau und sauber Protokoll geführt worden ist und die Bücher vermutlich ziemlich vollständig vorhanden sind. Das älteste, das wir bei unserem Besuch spontan aus dem Regal ziehen, stammt aus dem Jahr 1900. Auf den ersten Seiten finden wir einfarbige Bandabschnitte, vermutlich sogenannte Nutzbänder, die einst beispielsweise zur Verstärkung in Kleidern – etwa für Träger – hergestellt wurden. Dann folgen aber auch schon die früher so beliebten Zierbänder mit farbenprächtigen gedruckten oder auch eingewobenen Mustern.
Die unzähligen Designs seien vermutlich fast bis zum Schluss firmenintern entworfen worden, sagen Klaassen und Rudin. Dabei hat man sich aber offenkundig auch von auswärts inspirieren lassen: Gefunden wurden allerlei Mustersammlungen, die man sich von Beobachtern hauptsächlich aus Paris hatte zuschicken lassen. Heute würde man wohl von «Trendscouts» sprechen. Spannend könnte bei der Erforschung sein, wie sich Ereignisse der Weltgeschichte auf die Designs niedergeschlagen haben. Bereits bei einem anderen Nachlass wurde entdeckt, dass beispielsweise nach der Entdeckung des Grabs von Tutanchamun im Jahr 1922 in Baselbieter Webereien plötzlich Bänder mit Ägypten-Sujets produziert wurden. Weitere solche Geschichten dürften im Senn-Bestand nun ebenfalls zu entdecken sein.
Rund eineinhalb Jahre wird die Erschliessung der Sammlung in Anspruch nehmen. Wenn die Senn-Bänder, -Musterbücher und übrigen Objekte an den Kanton Baselland übergegangen sind, werden sie die bereits vorhandene Sammlung der Gelterkinder Bandfabrik Seiler ergänzen, die auch die Grundlage der permanenten Ausstellung zur Seidenbandweberei im Museum.BL bildet. Seiler hatte seine Tore schon ein Vierteljahrhundert vor Senn geschlossen. Der Nachlass Seiler war ähnlich gross und wird bei Archäologie und Museum Baselland laufend erschlossen.
Warme Gefühle
Doch zurück auf die «Textilpiazza», wo – doch dies ist ein anderes grosses Thema – auch der Hanro-Nachlass erforscht wird. Wir stöbern in einer losen Kartei mit weiteren zahllosen Mustern aus der Senn-Produktion. Sofort meint man, einzelne Sujets wiederzuerkennen. «Das geht fast allen so», sagt Klaassen. Die Seidenbänder weckten bei den Baselbieterinnen und Baselbietern meist Erinnerungen und warme Gefühle. Es gebe, was Wunder bei dieser Seidenband-Tradition, nach wie vor eine starke emotionale Verbundenheit, weshalb es sich auf jeden Fall lohne, diesen Nachlass zu konservieren und der Öffentlichkeit zu zeigen.
Die lange Geschichte der Senn und Co. ist eng verwoben mit der Geschichte der Region Basel. Die chemische Industrie hatte im Zusammenhang mit der Textilherstellung ihren Ursprung; auch die Entwicklung von Banken, Handel, Transport und anderem mehr wurde beschleunigt. Gegründet wurde die Vorgängerfirma von Senn und Co. einst von einem Zweig der Basler Familie Preiswerk im Jahr 1725. Nachdem 1818 Friedrich Senn eingestiegen war, entwickelte sich die Bandfabrik lange Zeit ausserordentlich gut und gehörte bald zu den grössten der Branche. Produziert wurde in der Hochblüte des Unternehmens in Basel, im Elsass, nahe Londons und schliesslich auch in einer Fabrik mit 100 Mitarbeitern in Ziefen im Fünflibertal. Hier ratterten schon zuvor in den Bauernstuben besonders viele Webstühle, 1880 waren es 244 Stück. Die letzte Heimposamenterin der Region gab hier die Weberei erst 1988 auf.
Ausserhalb der Fabriken beschäftigte Senn ein kleines Heer von Heimposamentern.Aus der Firmengeschichte geht hervor, dass im Jahr 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, mit 1000 im Baselbiet aufgestellten Bandwebstühlen einer der Höhepunkte erreicht worden war. Aussergewöhnlich ist, dass die Senn und Co. anders als viele Konkurrenten die Weltwirtschaftskrise vor dem Zweiten Weltkrieg einigermassen unbeschadet überstehen und noch während des Zweiten Weltkriegs sogar expandieren konnte. Der Baubeginn für die Ziefner Fabrik fiel in die letzten Kriegsjahre, feierlich eröffnet wurde sie am Heiligabend im Jahr 1945. Werner Walther-Alispach, der jahrzehntelang Betriebsleiter in Ziefen war und mittlerweile verstorben ist, hat in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch «Das Seidenband als Lebensband – 48 Jahre in der Bandweberei» das Geheimnis verraten: «Die Geschäftspolitik war durch eine ständige Entwicklung, eine ständige Anpassung an den Markt gekennzeichnet», schrieb er.
16 Laufmeter Akten
Der Senn-Nachlass umfasst einen weiteren Bereich: Das grosse Archiv mit allen Geschäftsunterlagen wie Buchhaltung, Bilanzen und Personalunterlagen und vielem anderen mehr. 16 Laufmeter Akten wurden gemessen. Dieser Bestand geht ans Basler Wirtschaftsarchiv und wird dort weiter erforscht. Klaassen nennt die Hinterlassenschaft des Unternehmens «ungemein wertvoll». Es könnten Rückschlüsse über Verflechtungen und Netzwerke in der damaligen Wirtschaftswelt gezogen werden, zudem über den Transport («Bottenwesen») oder den internationalen Handel. Sehr speziell mutet heute beispielsweise an, dass Seidenbandwebereien wie Seiler einst viel Ware nach Afrika exportierten. Bei Senn erhält man nun ebenfalls Einsichten in die gesamte Firmentätigkeit.
Wir beneiden beim Abschiednehmen Historiker Dominique Rudin und seine Helferinnen und Helfer etwas: Allzu gerne würde man beim Auspacken der Rollen mithelfen, wenigstens bei den ersten 100. Für die restlichen 40 000 bis 50 000 dürfte einem das erwartungsfrohe Lachen dann bestimmt irgendwann vergehen. Wir warten derweil gerne auf den Schlussbericht.