Ein Plan für die Randregionen
30.10.2018 Baselbiet, Gemeinden, Politik, Gesellschaft
David Thommen
«Volksstimme»: Herr Rüegg, blutet das Baselbiet an seinen Rändern langsam aus?
Martin Rüegg: Nein, das wäre stark übertrieben ausgedrückt. Aber der Unterschied beim Entwicklungstempo zwischen der ländlichen Gegend ...
David Thommen
«Volksstimme»: Herr Rüegg, blutet das Baselbiet an seinen Rändern langsam aus?
Martin Rüegg: Nein, das wäre stark übertrieben ausgedrückt. Aber der Unterschied beim Entwicklungstempo zwischen der ländlichen Gegend und dem «Speckgürtel» sowie den Talachsen wird immer deutlicher: In den Zentren brummt es, auf dem Land hingegen wird abgebaut …
Stichworte?
Einzelne Gemeinden sind am Wochenende nicht mehr mit dem öV erreichbar, Poststellen und Bankfilialen wurden geschlossen, Restaurants auch, Dorfläden kämpfen ums Überleben, Schulen werden zusammengelegt, die SBB will beispielsweise selbst in einem Regionalzentrum wie Gelterkinden keine Billetts mehr verkaufen. Zudem haben immer mehr kleine Gemeinden an den Rändern Mühe, ihre Aufgaben finanziell noch bestreiten zu können.
Dass Entwicklung hauptsächlich in den Zentren stattfinden soll, wurde einst von Regierung und Landrat mit der Verabschiedung des Richtplans genau so gewünscht. Wurde mit dem Fokus auf die Zentren übertrieben?
Nein, das war grundsätzlich schon richtig. Entwicklung soll dort stattfinden, wo die Verkehrserschliessung am besten ist. Man muss dennoch aufpassen, dass der Rest des Kantons nicht untergeht. Fokussierung heisst nicht, dass die Bedürfnisse der ländlichen Gegend nur noch ungenügend erfüllt werden.
Sie haben mit einem Vorstoss eine «Strategie für die Randregionen» von der Regierung gefordert. Die Regierung lehnt das ab, da schon genügend getan werde.
Ja, ich bin enttäuscht von der Antwort. Man will offensichtlich das Problem nicht sehen, dabei ist es ja nicht zuletzt der Kanton, der die Randregionen-Problematik selber beschleunigt. Wenn Dörfer mehr und mehr aus Spargründen vom ÖV-Netz abgehängt werden oder man sie mit explodierenden Sozialhilfekosten nahezu alleine lässt, dann beschleunigt das die Abwärtsspirale. Gerade die Sozialhilfekosten sind in naher Zukunft ein Pulverfass. Heute leiden elf der Baselbieter Gemeinden übermässig darunter, bald werden es deutlich mehr sein.
Darüber, ob die Sozialhilfekosten anders verteilt werden, stimmt das Baselbiet bald ab. Was aber ist Ihr sonstiges Rezept, um die Abwärtsspirale zu stoppen?
In erster Linie müssen die regionalen Zentren gestärkt werden. In unserer Gegend sind das vor allem Sissach und Gelterkinden. Hier sieht sich der Kanton ganz offensichtlich überhaupt nicht in der Verantwortung. Meiner Meinung nach müssten die wenigen kleinen «Leuchttürme», die wir haben, gefördert werden. Beispielsweise die Kunsti in Sissach oder das Marabu in Gelterkinden. Wir brauchen hier eine breitere Trägerschaft: Standortgemeinde, Nachbargemeinden und Kanton sollten die Zukunft solcher Institutionen gemeinsam sichern – so, wie das beim Hallenbad Gelterkinden gemacht wird. Sodann muss die Verkehrsverbindung in die kleinen Gemeinden wieder besser werden. Haben die nahen regionalen Zentren ein gutes Angebot und sind sie problemlos mit dem öV erreichbar, bleiben auch die Dörfer in der Umgebung als Wohnort attraktiv.
Die ÖV-Verbindungen in die Dörfer sind meist hochgradig unrentabel …
Man darf auf dem Land nicht die gleichen ökonomischen Massstäbe wie im «Speckgürtel» anlegen. Dass zwingend und alleine ein Kostendeckungsgrad von 25 Prozent erreicht werden muss, halte ich für falsch. Es gibt wichtigere Werte als den Kostendeckungsgrad. Hier geht es um den Service public, von dem alle profitieren sollen.
Bei den meisten der von Ihnen aufgeführten Abbau-Beispiele hat der Kanton allerdings kaum Einfluss: Wenn die Post schliesst oder ein Dorfladen zugeht, kann der Kanton nichts tun. Schon gar nicht, wenn eine Bank eine Filiale dicht macht.
Einverstanden. Doch eben: Wenn die regionalen Zentren gestärkt werden, dann bleiben dort auch die Bankfilialen offen. Überdies stelle ich immer wieder fest, dass es auch nützen kann, wenn der Kanton einen gewissen Druck aufbaut – gerade auch bei grossen «Playern» wie SBB, Post oder eben Banken. Häufig kann man angepasste Lösungen für einen Weiterbetrieb finden, die allen dienen.
Der Kanton Baselland plant, nach seiner grossen Sparübung die subventionen für Institutionen in Basel-Stadt wieder aufzustocken. Schluckt man da als Gelterkinder Gemeinderat nicht etwas leer?
Nein, die Subventionen nach Basel stören mich nicht. Wenn man dort allerdings schon aufstockt, dann sollte man sich unbedingt auch grosszügiger zeigen, wenn es um Institutionen wie das «Marabu» geht.
Sie fordern Unterstützung für Zentrumslasten von kleinen Gemeinden. Gerade dort, wo fast nichts mehr geboten wird, sind die Steuern häufig aber bereits heute höher als in Orten mit vollem Angebot. Geht das noch auf?
Jeder ist frei, dorthin zu ziehen, wo er will. Aber klar: Einfacher wird es für die kleinen Gemeinden nicht, um ihre Aufgaben noch erledigen zu können. Sie müssen sich bewegen und besser versuchen, gewisse Leistungen gemeinsam und dadurch günstiger abzudecken.
Sie denken an Gemeindefusionen?
Ich stelle fest, dass es im Baselbiet diesbezüglich extreme Hemmungen gibt. Diese Diskussion müssen wir unbedingt intensivieren. Ob Fusionen sinnvoll sind, muss man dann im Einzelfall anschauen.
Gerade die Menschen aus urbaneren Gegenden sehen es ganz gern, wenn auf dem Land wenig passiert und die Landschaft möglichst unversehrt erhalten bleibt …
Das ist auch richtig so. Ein Flächenwachstum müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Qualitative Entwicklung im Innern bleibt aber möglich. Wenn ich beispielsweise Gelterkinden anschaue, dann gibt es im Dorf nach wie vor sehr viel Platz, um zu bauen.
Diese Reserven sind aber nicht unendlich goss …
Für die nächsten 15 Jahre wird es reichen. Die Frage ist, was danach geschieht. Der Kanton strebt ein Bevölkerungswachstum von einem Prozent pro Jahr an – ich halte das für zu viel. Irgendwann muss das Wachstum zum Stillstand kommen.
Ohne Wachstum keine Entwicklung.
Die Grundsatzfrage stellt sich seit Längerem: Wie viel Wachstum verträgt dieser Globus noch? Wie viel jede einzelne Gemeinde? Wir müssen die Entwicklung umweltgerechter gestalten.
Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?
Indem wir zum Beispiel die Richtplanung mit einem mittleren Bevölkerungswachstum statt mit einem hohen angehen. Oder indem wir vermehrt in Regionen denken und handeln, wie das nun auch angedacht ist. Oder indem wir vermehrt von der Neuen Regionalpolitik (NRP) des Bundes zu profitieren versuchen, die den ländliche Raum und die Grenzregionen unterstützt – wir sind ja beides. Und es führt nichts drum herum: Wir müssen unbedingt wieder bescheidener werden.