WASHINGTON POST
10.08.2018 BaselbietVeloland Amerika
Eine der Fragen, die wir hier am öftesten hören, lautet: «Ihr habt doch ein Auto, ja?» Haben wir nicht. Aber Amerika ohne eigenes Auto – das geht tatsächlich. In den Container, den wir vor unserer Abreise verschifften, ...
Veloland Amerika
Eine der Fragen, die wir hier am öftesten hören, lautet: «Ihr habt doch ein Auto, ja?» Haben wir nicht. Aber Amerika ohne eigenes Auto – das geht tatsächlich. In den Container, den wir vor unserer Abreise verschifften, haben wir unsere Velos gepackt. In meinem Fall war das ein etwas biederes Herrenvelo. Blauer Rahmen, breiter Sattel, Made in Switzerland, gekauft als Occasion in einer Eingliederungsstätte in Basel. Falls mich dort jemals jemand darum benieden hätte: Es wäre an mir vorbeigegangen. Ich mag mein Velo trotzdem, und was meine Liebe noch gesteigert hat: Hier in Washington bin ich damit – und das ist nur leicht übertrieben – ein Star.
Nicht, dass einem die Stadt das Velofahren leicht machen würde. Es gibt zwar seit ein paar Jahren ein gutes Netz an Fahrradwegen, und die Amerikaner sind als Autofahrer zurückhaltend genug, um mit ihren SUV genügend Abstand zu halten. Doch die Schlaglöcher sind hier so zahlreich, so gross und so tief, dass man unweigerlich Slalom fährt, um sich nicht die Handgelenke zu brechen. Warum die Strassen in der Hauptstadt aussehen müssen wie in einem Drittweltland, ist mir immer noch nicht ganz klar. Entschädigt werde ich dafür mit spektakulären Ansichten. In zehn Minuten beim Kapitol, in zwanzig vor dem Weissen Haus – daran gewöhnt man sich nur langsam.
Viel wichtiger aber: Sehr oft, wenn ich wieder an einer der vielen Ampeln stehe und warte, bis die elektronische Sekundenanzeige heruntertickt, höre ich neben mir eine Stimme. «Hey», klingt das dann zum Beispiel, «toller Rahmen! Wo ist der her?» Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Velofahrer mir inzwischen schmeichelhafte Dinge über mein Fahrrad zugerufen haben. Oft kommt dann noch die Frage, ob ich für irgendetwas trainiere. Mache ich nicht.
Und dann neulich das Problem mit der Kette, die einfach nicht mehr ins höhere Zahnrad schalten wollte: Nach verzweifelten Versuchen zu Hause fuhr ich zum sonntäglichen Farmers Market im Quartier. Beim Farmers Market gibt es eine Reparaturwerkstatt für Velos. Die Idee dahinter: Man übergibt das Velo nicht einfach einem Mechaniker, der es flickt, sondern man macht das mit dem Mechaniker zusammen. Nachhilfe für Amerikaner, die sonst nur Autos kennen.
In meinem Fall kam das dann doch ein wenig anders. Kaum hatte er mein Velo gesehen, trommelte Mechaniker Henry seine Kollegen zusammen, um staunend eine Komponente nach der anderen an meinem Fahrrad durchzugehen. Dieser Dynamo mit der LED-Lampe: unglaublich! Der Kettenschutz: fabelhaft! Die Glocke: ein Bijou! Die meisten Fahrräder hier, sagte Henry, seien klobige Leihvelos oder sonstwie malträtierte Modelle: «Ein Veloland sind wir eben nicht.» Er und seine Kollegen rissen sich dann wörtlich darum, mein Gefährt auseinanderzunehmen und das Problem zu beheben – ohne meine Beteiligung. Mein biederes Herrenvelo, blauer Rahmen, breiter Sattel, Made in Switzerland: In Amerika ist es ganz gross. Und für die Roadtrips gibt es ja immer noch den Mietwagen.
Der Sissacher Alan Cassidy ist USA-Korrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung». Von 2006 bis 2008 schrieb er für die «Volksstimme».