Das Rote Kreuz Baselland feiert
31.08.2018 Baselbiet, Bezirk Liestal
David Thommen
Herr Jenny, was war das damals bei der Gründung im Jahr 1893 für ein Umfeld im ?
Baselland war damals noch ein junger Kanton mit vielen Sorgen. Die Gründung unserer kantonalen Sektion erfolgte vielleicht auch deshalb ...
David Thommen
Herr Jenny, was war das damals bei der Gründung im Jahr 1893 für ein Umfeld im ?
Baselland war damals noch ein junger Kanton mit vielen Sorgen. Die Gründung unserer kantonalen Sektion erfolgte vielleicht auch deshalb vergleichsweise sehr spät – sie war eine der letzten. Bereits 1866 ist das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) gegründet worden, erst 1893 kam die Baselbieter Sektion hinzu. Die grosse Gründungswelle in anderen Teilen der Schweiz erfolgte während des deutsch-französischen Kriegs 1870/71. Dort hatte das Rote Kreuz seine Aufgabe gefunden. Damals wurde klar, dass es eine solche Organisation braucht.
Was gab den Ausschlag?
Es wurden französische Truppen mitten im Winter bei Belfort eingeschlossen und in die Schweiz abgedrängt. Es handelte sich um die sogenannte Bourbaki-Armee – an die 100 000 Mann! Die Soldaten kamen vor allem im Neuenburger Jura über die Grenze und mussten in der Schweiz untergebracht werden. Sie brauchten Nahrung, Kleider und Unterkunft. Die bereits bestehenden Rotkreuz-Sektionen und viele freiwillige Helferinnen und Helfer haben sich um die Versorgung gekümmert.
Hier sah man vorerst keine Notwendigkeit für eine Sektion?
Als der Sturm mit der Bourbaki-Armee vorbei war, flaute das Interesse am Roten Kreuz generell wieder etwas ab, auch dort, wo es eben erst gegründete Sektionen gab. 1882 gab es dann eine Anpassung der Organisation und der Strukturen beim SRK, was wieder zu einem Erwachen aus der Untätigkeit führte.
1893 kam es im Baselbiet dann doch zur Gründung. Wer gab den Anstoss? Der Kanton?
Nein, nicht der Kanton. Welche Personen genau die Gründung angestossen haben, ist mir im Moment nicht bekannt. Erster Präsident war aber Pfarrer Gessler aus Bennwil.
Aus religiösen Motiven heraus?
Das stand nach allem, was ich weiss, nicht im Vordergrund. Es gab damals so etwas wie eine moralische Verpflichtung, Gutes zu tun. Es ging um Menschenfreundlichkeit. Es waren in der Folge stets viele höher Gebildete, die sich im Roten Kreuz engagierten, vor allem Ärzte und Pfarrer.
Wie sah die Organisation in den Anfängen aus?
Zu Beginn bestand sie nur aus einem Vorstand. Es war eine jahrelange Arbeit, genügend Menschen zu begeistern, damit ein richtiger Verein gebildet werden konnte. Und man musste Geldsammlungen organisieren.
Was war das Ziel?
Der Urauftrag war es, die Volksgesundheit zu verbessern.
Konkret?
Hygiene war einer der Schwerpunkte. Mit Vorträgen wurde auf den Zusammenhang zwischen schlechter Hygiene und Krankheiten hingewiesen. Auch die Aufklärung über die Kinderkrankheiten war wichtig. Ferner wurde die Bedeutung von sauberem Wasser betont. Aber auch auf gesunde Wohnverhältnisse wurde hingewiesen. Und schon damals war die gesunde Ernährung ein wichtiges Thema.
Heute würde man wohl sagen: Prävention, Pflege und Schulung.
Ja. Das hat damals schon einiges gebracht. Die Menschen wussten über krankmachende Zusammenhänge noch kaum Bescheid. Später, nach dem Ersten Weltkrieg, ging es mit der Aufklärung weiter: Das Rote Kreuz setzte sich für ein «kropffreies Baselbiet» ein. Es machte sich stark dafür, dass die Menschen jodiertes Kochsalz verwendeten, was der Überfunktion der Schilddrüse vorbeugt. Die Baselbieterinnen und Baselbieter hatten Vorbehalte gegenüber dem «neuen» Salz; die Vorurteile mussten zuerst abgebaut werden. Heute wäre es genau das Gleiche, wenn man einem Grundnahrungsmittel einen Stoff künstlich zusetzen würde. Da gäbe es zuerst einmal grosse Skepsis. Man stelle sich vor, was in den Leserbriefspalten in den Zeitungen los wäre …
War der Kropf ein grosses Problem?
Ja, schon. Der gutartige Tumor der Schilddrüse wird durch Jodmangel ausgelöst. In Meeresnähe, wo Fisch gegessen wird, war das nie ein Problem. Bei uns enthalten die natürlichen Lebensmittel hingegen kaum Jod. Ich kann mich daran erinnern, dass es noch während der Jahre des Zweiten Weltkriegs und auch danach alleine hier in Gelterkinden bestimmt fünf bis zehn Frauen mit einem Kropf gab, obwohl jodiertes Salz längst eingeführt war. Selbst als ich 1967 mit meiner Praxis in Gelterkinden angefangen habe, kam es noch vor, dass ich jemanden zur Kropfoperation anmelden musste.
Im Baselbiet begann das Rote Kreuz derweil zu wachsen.
Hier hat man bald damit begonnen, Krankenmobiliendepots einzurichten. In bestimmt 30 Gemeinden gab es Lager mit Spucknäpfen, Krücken, Nachttöpfen, Fiebermessern und anderem mehr. Dank der Depots konnte man rasch reagieren, wenn jemand krank wurde. Diese Lager hat es sehr lange gegeben, erst 1993 wurden sie aufgehoben.
20 Jahre nach der Gründung bahnte sich der Erste Weltkrieg an …
… und das Rote Kreuz Baselland war total überrascht. Man war nicht vorbereitet. Ein Drittel des Vereinsvermögens hatte man zuvor dem SRK gespendet, damit dieses den unterfinanzierten Armeesanitätsdienst unterstützen und andere dringende Aufgaben erledigen konnte.
Das Rote Kreuz hat mit seinen Spenden also indirekt die Schweizer Armee subventioniert?
Ja. Das hat mich beim Nachlesen der Geschichte sehr gestört. Im Baselbiet wurde dann eine Rotkreuz-Kolonne gegründet, schweizweit gab es zwölf davon. Es handelte sich um Hilfsdienstpflichtige in Kompaniestärke von etwa 40 Personen. Im Ernstfall wurden sie in die Armee eingegliedert, in Friedenszeiten gehörten sie zur Rotkreuz-Sektion. Die Rotkreuz-Kolonnen waren auch im Zweiten Weltkrieg wieder im Einsatz, ihre Zahl wurde auf 31 erhöht. Sie bestanden für Jahrzehnte weiter und wurden erst etwa 1982 aufgelöst.
Gab es sonstige Aufgaben während des Ersten Weltkriegs?
Es wurde hier vor allem Material für die Soldaten gesammelt, um ihnen den Dienst erträglicher zu machen. Wolldecken, bequemere Schuhe und so weiter. Und dann half das Rote Kreuz mit, «Päckli» mit Esswaren für die Soldaten zu machen – sogenannte «Liebesgaben-Pakete». Weiterhin wurde auch Geld gesammelt, das dann dem Sanitätsdienst der Armee gespendet wurde.
Kaum war der Krieg vorbei, kam die Spanische Grippe, die grosses Leid auch über das Baselbiet brachte.
Es brauchte ganz viel Pflegepersonal – damals war das eine Aufgabe fast ausschliesslich für Frauen. Das Rote Kreuz bildete die Laienpflegerinnen aus und half mit, Notspitäler einzurichten. Für die Schweiz war die Grippe die weitaus grössere Katastrophe als der Krieg. Aus öffentlichen Gebäuden wurden Spitäler gemacht – aus Turnhallen oder auch aus Kirchen. Das genau Gleiche würde wohl auch heute passieren, wenn es zu einer solchen Katastrophe kommen würde. Die Zivilschutzanlagen dürften nicht ausreichen. Vieles wurde in den letzten Jahren abgebaut. Die Möglichkeit von grossen Krisen wurde in guten Zeiten stets gerne verdrängt, wie die Geschichte zeigt.
Konnte das Rote Kreuz vor allem wegen freiwilliger Frauen wirken?
Das kann man so sagen. Zum grossen Teil waren es pflegerische Tätigkeiten, die früher als «Frauenarbeit» betrachtet wurden. Heute ist das natürlich ein unmöglicher Begriff … Auch jetzt wirken zwar immer noch überwiegend Frauen bei unserer Organisation mit, aber Männer spielen eine zunehmend grössere Rolle. Zum Beispiel beim Fahrdienst, der angeboten wird, aber auch bei den Personen, die Kranke besuchen oder beim Notruftelefon tätig sind. Das hat sich stark verschoben. Vielfach sind es ältere Männer, die nach der Pensionierung etwas Sinnvolles machen wollen.
Während des Zweiten Weltkriegs waren die Aufgaben ähnlich wie im Ersten?
Ja, ganz ähnlich. Die erwähnten Rotkreuz-Kolonnen waren wiederum im Einsatz. Und die Frauen sammelten daheim für die Soldaten oder nähten für sie. Überdies wurde der Blutspendedienst organisiert.
Danach blieben ganz grosse Krisen zum Glück aus …
Aber man sorgte vor. Das SRK schenkte dem Roten Kreuz Baselland nach dem Zweiten Weltkrieg 100 Krankenbetten plus textilem und weiterem Zubehör für ein Notspital – für Katastrophen. Wir haben das Geschenk während Jahrzehnten sorgfältig gepflegt. Die Betten lagerten die ganze Zeit im Pulverhäuschen beim Altmarkt in Liestal. Erst Mitte der 90er-Jahre haben wir sie nützlich verwertet.
Hat das Rote Kreuz während des Zweiten Weltkriegs Dinge getan, an die man sich heute nicht mehr gerne erinnert?
Nichts, was die Baselbieter Sektion betrifft. Aber das Schweizerische Rote Kreuz hat im Zusammenhang mit der Umsorgung von Kriegswaisen Fehler gemacht. Es wurde versucht, jüdische Kinder von Frankreich in die Schweiz zu schleusen, was ja dem Grundgedanken des Roten Kreuzes entsprochen hätte. Das flog aber auf. Die Deutschen kamen und haben alle jüdischen Kinder abtransportiert. Das SRK als Organisation hatte damals in diesem Punkt versagt. Aber natürlich wurde auch viel Gutes getan. So wurde unter anderem 180 000 Kriegskindern ein Ferienaufenthalt in der Schweiz ermöglicht. Auch im Baselbiet hatte es viele dieser Ferienkinder.
Später weitete das Rote Kreuz sein Aufgabengebiet stark aus.
Ja, wir haben laufend sehr viele neue Aufgaben übernommen. Vor allem wurde auf die Ausbildung von Pflegepersonal gesetzt.
In den vergangenen 50 Jahren hat das Rote Kreuz den Fächer stark aufgemacht. Heute erinnert das Angebot der Organisation an einen Gemischtwarenladen. Wissen die Leute auf der Strasse überhaupt noch, was das Rote Kreuz in diesem Kanton ist?
Ein interessanter Aspekt. Während des Krieges war das Rote Kreuz mit seinem Logo überall präsent, auf Eisenbahnwagen zum Beispiel. Gründer Henry Dunant war uns Kindern ein Begriff. Wir haben daheim sogar Rotes Kreuz gespielt! Heute ist es eine Daueraufgabe, sich bekannt zu machen. Längst sind nicht allen die Unterschiede zwischen IKRK, dem SRK und dem Roten Kreuz Baselland bekannt. Indessen sprechen wir in unserer Region viele Menschen mit unseren Angeboten ganz direkt an, also mit den Ausbildungs- und Fortbildungskursen oder mit den vielen Dienstleistungen von Kinderhütedienst bis Betreuung von Dementen. Der Gemischtwarenladen hat also auch seine Vorteile.
Beim Spendensammeln dürfte sich die wenig scharfe Fokussierung dennoch nicht sehr positiv auswirken.
Das mag sein. Aber von den rund 6 Millionen Franken, die das Rote Kreuz Baselland jährlich umsetzt, sind etwas mehr als 10 Prozent Spenden – und diese Summe ist über die Jahre gesehen recht stabil. Die Spenden werden gebraucht, um Angebote zu verbilligen oder um dort Aufgaben zu übernehmen, wo sich Lücken auftun. Der Staat kann und soll auch nicht überall einspringen. Das Rote Kreuz musste nie neue Tätigkeitsfelder suchen, die Lücken tun sich laufend auf. Niemand kann so flexibel reagieren wie wir. Am Grundauftrag, den Menschen unkompliziert zu helfen, hat sich in den vergangenen 125 Jahren überhaupt nichts geändert.
Das Rote Kreuz Baselland veranstaltet morgen Samstag, 1. September, einen Tag der offenen Tür an seinem Geschäftssitz an der Fichtenstrasse 17 in Liestal. Es werden Einblicke in die unterschiedlichsten Tätigkeiten geboten. Das ganze Programm ist unter www.srk-baselland.ch zu finden.
Mann mit Engagement
tho. Peter Jenny (83) präsidierte das Rote Kreuz Baselland während sagenhafter 40 Jahre – von 1976 bis 2016. Bereits zuvor sass er im Vorstand. Beruflich war er als Arzt tätig und hatte zwischen 1967 und dem Jahr 2000 eine eigene Praxis am Dorfplatz in Gelterkinden. Jenny engagierte sich auch in der Politik: Von 1979 bis 1995 war er Landrat für die Freisinnige Partei.