HERZBLUT
31.07.2018 GesellschaftTrügerische Ruhe
Mein Enkelkind, acht Monate alt, schläft selig entspannt im Bettchen. Nach fünf Runden «Hoppe Reiter», vier Runden «Schiffli fahre», drei zerfetzten Zeitschriften, zwei Schoppen und einem Spaziergang zu Nachbars Schafen ...
Trügerische Ruhe
Mein Enkelkind, acht Monate alt, schläft selig entspannt im Bettchen. Nach fünf Runden «Hoppe Reiter», vier Runden «Schiffli fahre», drei zerfetzten Zeitschriften, zwei Schoppen und einem Spaziergang zu Nachbars Schafen hat die Müdigkeit das Kindchen übermannt. Herrliche Ruhe. Mütter und Väter wissen, wie kostbar sie ist. Aber auch wie tückisch. Denn Ruhe ist oft genug das Gegenteil von dem, was sie zu sein scheint. Hier ein Warnhinweis für Unerfahrene.
Wenn die Kinderzimmertüre leise zugeht, die Streitereien plötzlich aufhören und dieser Zustand länger als fünf Minuten anhält, dann sollten Sie auf keinen Fall die Füsse hochlegen und sich über den Frieden freuen – Sie würden es in jedem Fall bereuen. Denn entweder erhält Ihre Katze gerade eine Dauerwelle mit dem Lockenstab oder die Kinderzimmerwände werden gerade mit der Schuhcreme Ihres Mannes neu angestrichen. Vielleicht versucht sich Ihre Vierjährige auch nur als Coiffeuse am Nachbarskind – womöglich mit der Geflügelschere.
Ruhe in einem Haus mit Kindern im Grundschulalter hat ebenfalls ihre Tücken. Sie bedeutet in den wenigsten Fällen, dass Ihre lieben Kleinen zusammen Hausaufgaben machen. Es bedeutet auch kaum, dass sie zusammen das Zimmer aufräumen. Viel eher sind sie in Ihrem Schminkschrank fündig geworden und verabreichen den 53 Puppen und 44 Stofftieren im Kinderzimmer eine dicke Schicht Helena-Rubinstein-Nachtcreme zum Preis von 80 Franken pro Fingerhut. Im besten Fall haben sie sich in der Küche bedient und prüfen, ob das Fell des Hundes wirklich zu glänzen beginnt, wenn man es mit rohen Eiern und Öl behandelt.
Auch in einem Haus mit Teenagern gibt es keinen Grund zur entspannten Fusshochlage, sollte einmal der höchst seltene Fall eintreffen, dass Gezicke und Gezanke der Ruhe weichen. Die Ursachen dafür sind eher: 1. Ihr Sohn hat das Passwort Ihres Computers gehackt und surft im Internet auf Seiten ab 18 Jahren oder bestellt sich mit Ihrer Kreditkarte das neuste Game von «Sniper: Ghost Warrior» (die blutrünstige Version). 2. Ihre Tochter liest gerade die Gebrauchsanweisung für das Haarfärbemittel «Shocking Pink», mit dem man auch 10 Jahre alte Flecken aus dem Teppich entfernen könnte. 3. Ihre Lieblinge haben die Betten mit Attrappen ausgestopft und sind auf dem Weg zur nächsten Party, auf der es garantiert keinen Eistee zu trinken gibt.
20 Jahre lang wünschen wir uns Ruhe herbei. Wir warten auf die Ruhe, wenn die Kinder im Kindergarten sind, die Ruhe, wenn sie in der Schule sind, die Ruhe, wenn sie in die Lehre gehen oder auf die Uni kommen. Dann haben wir es endlich geschafft, und es ist ruhig, weil sie ausgezogen sind. Doch kaum haben wir die Füsse hochgelegt, stehen sie wieder vor der Türe, auf dem Arm das Enkelkind: «Könntest du bitte mal die Kleine hüten? Ich brauch unbedingt etwas Ruhe.»
Yvonne Zollinger, Redaktorin «Volksstimme»