«Wow, hier kann man ja probieren»
28.12.2023 LausenMichèle Thommen betreibt eine Boutique für Perücken
«Es ist eine Perücke.» Das sagte Michèle Thommen kürzlich zu der Kassiererin, die ihr ein Kompliment zu ihren Haaren gemacht hatte. Dass sie heute so offen dazu steht, dem ging ein jahrelanger ...
Michèle Thommen betreibt eine Boutique für Perücken
«Es ist eine Perücke.» Das sagte Michèle Thommen kürzlich zu der Kassiererin, die ihr ein Kompliment zu ihren Haaren gemacht hatte. Dass sie heute so offen dazu steht, dem ging ein jahrelanger Prozess voraus. Das Tragen von Perücken ist immer noch mit einem Tabu behaftet.
Brigitte Keller
Bei Stars in Hollywood sei es nichts Aussergewöhnliches, dass sie an einem Tag mit langen blonden Haaren auftreten und am nächsten Tag mit einer Kurzhaarfrisur in Schwarz. Und umgekehrt. «Sie tragen Perücken, ganz selbstverständlich, und Komplimente sind ihnen sicher», sagt Michèle Thommen. In der Schweiz sei man leider noch nicht ganz so weit. Hierzulande sei das Tragen von Perücken immer noch ein Tabu, wenn nicht gar verpönt, und viele Trägerinnen wollen nicht, dass es jemand erfährt. Denn sogleich rücke das Thema «Krankheit» in den Vordergrund.
Michèle Thommen (43) weiss, wovon sie spricht. Sie kennt den Leidensweg, wenn man bereits als junge Frau weniger Haare hat als andere und diese wenigen dann auch noch zu verlieren beginnt. Ihre Erfahrungen und das Wissen, das sie sich in den vergangenen mehr als 20 Jahren angeeignet hat, hat sie dazu bewogen, genau die Boutique zu eröffnen, die sie sich als Betroffene schon damals gewünscht hätte. «Wigup» –also «Perücke auf» – heisst ihr Geschäft, das es nun seit Ende August im Zentrum von Lausen gibt.
«Ja, eine bevorstehende Chemotherapie kann ein guter Grund sein, sich vorher eine Perücke anzuschaffen», sagt Thommen. Oder aber eine Frau kann aus hormonellen oder stressbedingten Gründen ihre Haare verlieren. Oder genetisch bedingt, wie bei ihr. Die fachliche Diagnose heisst in ihrem Fall «androgenetische Alopezie».
Alles ausprobiert
«Ich hatte nie viele Haare», sagt Thommen. «Im Alter von 20 Jahren habe ich dann angefangen mit Haar-Extensions.» Sie habe extra einen Kurs gemacht. Damals hatte sie noch genügend eigene Haare, um die Verlängerungen daran zu befestigen. Das Frisieren habe sehr viel Zeit in Anspruch genommen und so manches Mal sei sie danach trotzdem ängstlich – wenn nicht gar schweissgebadet – im Kino oder anderswo gesessen und habe gedacht, jeder sehe ihre kahlen Stellen auf dem Kopf.
Sie habe jedes «Mittelchen» ausprobiert, das es zu finden gab, und habe Tausende von Franken ausgegeben. Sie wollte einfach daran glauben, dass es irgendwo etwas gab, das den Verlust ihrer Haare aufhalten respektive rückgängig machen konnte. Als sie dann vor zehn Jahren schwanger wurde, wurden die Haare voller. Aber nur, um sie nach der Geburt noch massiver wieder zu verlieren.
Zu jenem Zeitpunkt hätte sie gar eine Haartransplantation in Betracht gezogen. Hätte, wenn ihr die aufgesuchte Ärztin nicht dringend davon abgeraten hätte. Sie befolgte deren Rat und liess sich, nachdem ihr Hausarzt keinen Grund feststellen konnte, im Dermatologischen Zentrum in Zürich untersuchen. Und dort stellte man die Diagnose «androgenetische Alopezie». Kein Mittel würde ihren Haarverlust aufhalten können. Nun konnte nur noch eine Perücke oder ein Haarteil weiterhelfen. Gerne hätte sie ein Geschäft gefunden, in dem sie sich in einem geschützten Rahmen gut beraten und wohlgefühlt hätte.
Babys ziehen bekanntlich gerne an den Haaren ihrer Mütter, deshalb entschied sich die junge Mutter nach eigener Recherche im Internet für ein Haarteil, das fest montiert wird. Das heisst, die noch vorhandenen Haare werden ganz satt zusammen mit Härchen des Haarteils zu Zöpfchen geflochten und ganz satt an der Kopfhaut festgezurrt. Das Haarteil hielt, aber das Ganze war sehr schmerzhaft und erst noch teuer, denn alle vier Wochen musste die Prozedur wiederholt werden. «Deine eigene Kopfhaut spürst du so nie, es fängt an zu jucken und führt im schlimmsten Fall, wie bei mir, zu Entzündungen auf der Kopfhaut.» Die Vernarbungen, die Thommen aus dieser Zeit zurückbehalten hat, zeugen von dieser Strapaze.
«Ich hätte mir eine Adresse gewünscht, wo man in einer schönen, aber auch abgeschirmten Umgebung Perücken ungezwungen hätte probieren können.» Ihre Vermutung, dass es vielen anderen Frauen auch so gehen würde, bestätigt sich jetzt. Jetzt, da es diesen Ort gibt, mitten in Lausen, etwas zurückversetzt von der Hauptstrasse. Dort hat Thommen zusammen mit ihrem handwerklich versierten Mann ein kleines Bijou geschaffen. Bestückt mit Perücken in gängigen Grössen und versehen mit trendigen Schnitten.
Begegnung auf Augenhöhe
«Wow, hier kann man ja wirklich etwas ausprobieren», so die Reaktionen der Kundinnen, wenn sie zum ersten Mal die Boutique betreten. «Das Kennenlernen, der Austausch und die Beratung sind kostenlos», fügt Thommen an. Anders ausgedrückt könnte man es auch als unbezahlbar bezeichnen, wenn das Gegenüber genau weiss, wovon man spricht, und sich auch die Verkäuferin ohne Perücke zeigt. Ihr genetisch bedingter Haarausfall beschäftigt Thommen seit ihrer Jugendzeit. «Es ist ein Teil meines Lebens, jeden Tag.» Sie hat alle Phasen durchlebt, hat gesucht, probiert, gelesen, verglichen. Gerne gibt sie dieses Wissen nun an betroffene Frauen weiter, deren Anzahl tendenziell zunehme.
Wenn die Kundinnen dann eine in Grösse, Farbe und Schnitt passende Perücke aufsetzten, dann fühlte es sich für einige an, wie das passende Hochzeitskleid gefunden zu haben. Das Bild im Spiegel ist schön, gefällt und löst ein wohliges Gefühl aus. «Und die Frauen können, wenn sie wollen, die Perücke gleich aufbehalten und mitnehmen», ergänzt Thommen. «Es muss nicht erst eine bestellt und abgewartet und gehofft werden, dass sie dann passt.»