Wie sich krankhafte Vergesslichkeit anfühlt
25.02.2025 SissachDemenzpfad mit 13 Stationen – ein Selbstexperiment
Im «Mülimatt» in Sissach gab es am Wochenende die Möglichkeit, Demenz hautnah zu erleben. An 13 Stationen werden alltägliche Aufgaben zu ermüdenden Herausforderungen. Ich habe mich auf ein ...
Demenzpfad mit 13 Stationen – ein Selbstexperiment
Im «Mülimatt» in Sissach gab es am Wochenende die Möglichkeit, Demenz hautnah zu erleben. An 13 Stationen werden alltägliche Aufgaben zu ermüdenden Herausforderungen. Ich habe mich auf ein Selbstexperiment eingelassen – und eine völlig neue Perspektive gewonnen.
Melanie Frei
Menschen mit Demenz vergessen Dinge, schreiben anders und handeln oft auf eine Art und Weise, die für «normale» Menschen nur schwer nachvollziehbar ist. Um sie besser zu verstehen, habe ich mich auf einen Selbstversuch eingelassen und am vergangenen Freitag das Zentrum für Pflege und Betreuung Mülimatt in Sissach besucht.
Im vierten Stock des Hauses A empfängt mich Pflegeexpertin Roswitha Schmadel und erklärt mir, wie der Parcours aufgebaut ist. Jede Station stellt eine Alltagssituation dar, die für gesunde Menschen selbstverständlich ist: Abendessen, eine Karte schreiben oder den Weg in die Stadt finden. Doch für Menschen mit Demenz sind selbst einfache Abläufe oft eine unlösbare Herausforderung.
Der Demenzpfad wurde in Deutschland von einem Psychologiestudenten entwickelt, der sich intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. Er soll gesunden Menschen zeigen, wie das Gehirn von Betroffenen auf unvorhersehbare Reize reagiert – oder eben nicht mehr reagiert. Während unser Gehirn Unregelmässigkeiten meist unbewusst ausgleicht, ist diese Funktion bei Demenzkranken stark eingeschränkt.
Verzerrte Wahrnehmung
Neben mir waren auch Pflegekräfte anwesend, die sich in die Welt der Demenz einarbeiten wollten. Am Samstag war der Parcours für Externe geöffnet. «Du schaffst nicht alle 13 Stationen», sagte Roswitha zu mir. Ich fragte mich, warum. Die Antwort konnte ich mir selbst geben, als ich die erste Aufgabe in Angriff nahm.
Vor mir stand ein offener Holzkasten mit einem Spiegel an der Rückwand. Nur meine Hände waren darin zu sehen. Nun sollte ich auf ein Blatt Papier einen Smiley, eine Sonne und Sterne malen und dabei nur durch den Spiegel schauen. Ich griff zum Bleistift. Doch meine Bewegungen fühlten sich plötzlich fremd an. Ich versuchte angestrengt, spiegelverkehrt die Strahlen meiner Sonne richtig zu setzen, aber sie wurden krumm und schief. Von meinen Sternen will ich gar nicht erst anfangen zu erzählen …
Ich war verblüfft. Nicht nur darüber, dass ich eine so einfache Aufgabe nicht mehr bewältigen konnte, sondern auch darüber, wie anstrengend dieser Versuch für mich war. Roswitha erzählte mir von einem Ehemann, der zutiefst erschüttert war, nachdem er diesen Demenzpfad durchschritten hatte. Die Simulation hat ihm schmerzhaft vor Augen geführt, wie seine demenzkranke Frau die Welt wahrnimmt. Er fühlte sich schuldig, weil er seiner Frau in der Vergangenheit oft Unrecht getan hatte.
Auch ich ertappte mich dabei, dass ich die Aufgaben unterschätzte. Ein Begleitheft neben den Stationen erklärt den medizinischen Hintergrund der Simulationen: Bei Menschen mit Demenz ist die Wahrnehmung der räumlichen Orientierung sowie der kognitiven und visuellen Fähigkeiten gestört. Dabei können die Betroffenen Details nicht mehr richtig erfassen, Perspektiven verschieben sich, Grössenverhältnisse erscheinen verzerrt – genau so, wie ich es bei meinen eigenen Zeichnungen erlebte.
Unkontrollierte Bewegungen
Frustrierend war auch die Station «Abendessen». Ich sollte mit einem Löffel bunte Kugeln aus einer Glasschüssel fischen und in Plastikbecher legen – doch der Blick in den Spiegel machte die Aufgabe fast unmöglich. Die Kugeln rollten weg, meine Bewegungen waren unkoordiniert, der Löffel gehorchte mir nicht. «Spiegelverwirrung» zeigt ein typisches Symptom der Demenz: Störungen in der Ausführung von Bewegungsabläufen, die früher automatisiert waren.
Völlig auf das Einsammeln der Kugeln konzentriert, bemerkte ich etwas erst am Ende: Auf der Anweisung stand in grüner Schrift die Farbe «gelb» – ich hatte aber grüne Kugeln eingesammelt. Dasselbe war mir bei allen anderen Kugeln auch passiert.
Ich war erschöpft, mein Kopf brummte. Dabei war ich vielleicht 45 Minuten beschäftigt gewesen. Roswitha nickte, als ich ihr meine Erlebnisse schilderte. «Du hast es gut, wegzugehen, den Kopf zu lüften und alles hinter dir zu lassen. Menschen mit Demenz können das nicht.»
Diese Aussage stimmte mich auf dem Weg zurück ins Büro nachdenklich. Wie oft nehmen wir unsere geistige Gesundheit als selbstverständlich hin? Wie wenig denken wir darüber nach, was es bedeutet, wenn unser Gehirn nicht mehr wie gewohnt funktioniert? Der Demenzpfad hat mir gezeigt, wie es sich anfühlt, die Kontrolle zu verlieren. Und er hat mir gezeigt, wie viel Verständnis und Geduld wir den Menschen entgegenbringen müssen, die mit dieser Krankheit leben.