Wie das Dorf zu einer grünen Oase kam
18.09.2025 SissachEigentlich wollte der Kanton entlang der Ergolz eine Expressstrasse bauen
Aus Anlass des Gemeinde- und Kirchenjubiläums belebten die naturnahen Vereine Sissachs am vergangenen Wochenende das so genannte «Griederland», ein bemerkenswertes Fleckchen Erde. Die frühere ...
Eigentlich wollte der Kanton entlang der Ergolz eine Expressstrasse bauen
Aus Anlass des Gemeinde- und Kirchenjubiläums belebten die naturnahen Vereine Sissachs am vergangenen Wochenende das so genannte «Griederland», ein bemerkenswertes Fleckchen Erde. Die frühere Besitzerfamilie nannte es seine «Riviera».
Ruedi Epple
Auf dem «Griederland», der grünen Oase zwischen der Ergolz und dem Allmendweg sowie zwischen den Brücken an der Rheinfelderstrasse und bei der Kleinen Allmend, fand am Wochenende ein grösserer Anlass statt (siehe «Volksstimme» vom 16. September, Seite 7). Seinen Namen erhielt dieses Stück Land Ende der 1920er-Jahre: Damals stellten die Obere und die Untere Fabrik die Seidenbandproduktion ein und das Areal ging in den Besitz der Familie Grieder über.
Grieders hatten bei der «Schliffibrugg», dort wo heute der Blumenladen Pasadena eingemietet ist, eine Metzgerei. Sie hielten auch Schweine und Kühe. Das Stück Land entlang der Ergolz kauften sie, um dort Obstbäume zu pflanzen und ein Wochenendhaus zu errichten. Das Häuschen, das noch heute steht, und der Obstgarten sei die «Riviera» ihrer Familie gewesen, erinnert sich Heiner Grieder. Man habe dort die Freizeit verbracht. Als Kinder hätten sie Flosse gebaut, in der Ergolz gebadet und Wasserkämpfe geführt.
Als die Obere und Untere Fabrik noch Seidenbänder woben, führte ein Kanal durch das «Griederland». Sein gegenüber der Oberen Fabrik gefasstes Wasser floss in Tunnels durch die nördlichen Brückenköpfe an der Rheinfelderstrasse und am Allmendweg. Dazwischen plätscherte es zwischen der Uferbestockung der Ergolz und Obstbäumen offen und gemächlich der Unteren Fabrik entgegen, wo es zum Antrieb der Webstühle diente. Die Untere Fabrik verfügte auch über ein Gaswerk, das Kohle verkokste, um mit dem Gas die Fabriksäle zu beleuchten. Dieses Gas ging den umgekehrten Weg des Wassers. Denn die Obere Fabrik bezog das Beleuchtungsgas von der Unteren.
Seidenbandindustrie
Die beiden Fabriken waren entstanden, nachdem Sissach ab 1855 ans Eisenbahnnetz angeschlossen worden war. Die Bahn brachte das Rohmaterial, diente pendelnden Weberinnen und Webern, die in den Fabriken in Arbeit standen, und transportierte die fertigen Seidenbänder zu den Meerhäfen und damit in alle Welt.
Allerdings kam die Seidenbandindustrie nicht erst mit den beiden Fabriken nach Sissach. Sie war als Heimindustrie schon lange präsent. Um 1850 zählte man auf die rund 1400 Einwohnerinnen und Einwohner 163 Seidenbandwebstühle, die daheim in Stuben und Kammern ratterten.
Die Herstellung der Seidenbänder in Fabriken drängte der Heimindustrie neu eine «Pufferrolle» auf. War die Konjunktur für Seidenbänder günstig, hatte es Arbeit für Fabrik- und Heimweberinnen und -weber. Brach die Konjunktur ein, wie etwa während des Sezessionskriegs in den Vereinigten Staaten, lasteten die Seidenbandherren zuerst die Fabriken aus. Dort hatten sie hohe Investitionen getätigt, die rentieren mussten. Für die Heimindustrie blieben weniger Aufträge oder «Rechnungen», wie man damals sagte.
Doch die Heimposamenterinnen und -posamenter wussten auf die Fabrikkonkurrenz zu reagieren. Einmal gaben sie sich mit geringerem Lohn zufrieden. Sie konnten sich dies erlauben, weil sie nebenbei oft auch Kleinbauern waren, die sich selbst mit einem Teil des Lebensunterhalts versorgen konnten, neben dem Geldlohn aus der Posamenterei also auch noch einen Naturallohn erwirtschafteten. Zum Anderen begannen die Heimarbeiterinnen und -arbeiter ihre Webstühle mit Elektromotoren anzutreiben. Für die Zuführung des Stroms waren die Elektrizitätsgenossenschaften zuständig, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegründet wurden.
Maulbeerbäume als Raupenfutter
Die Elektrizität machte die Heimposamenterei produktiver und verbesserte die Qualität der mit grösserer Regelmässigkeit gewobenen Seidenbänder. Beide Strategien sorgten dafür, dass die Heimposamenterei den Fabriken noch lange die Stange halten konnten.
Der Wasserkanal, der durchs «Griederland» floss, ist wie der «Dyg» entlang des Teichwegs längst trockengelegt und zugedeckt. Doch zeugen auch die Maulbeerbäume, die oberhalb des Klubhauses der Exotic erhalten blieben, von der grossen Bedeutung, welche die Seidenbandindustrie einmal hatte. Maulbeerbäume sind die Futterpflanze für die Seidenraupen, aus denen nach der Verpuppung Nachtfalter werden. Die Bäume kamen um 1860 nach Sissach. Damals stand Martin Birmann dem landwirtschaftlichen Verein Baselland als Präsident vor. Er wollte die Zucht von Seidenraupen und die Herstellung von Seide aus deren Puppen als neuen landwirtschaftlichen Erwerbszweig einführen.
Der Verein besorgte Maulbeerbaum-Stecklinge, von denen im oberen Kantonsteil 11 000 Stück gepflanzt wurden. Zudem importierte er Tausende von Seidenraupeneiern, aus denen sich später die verpuppten Seidenraupen entwickeln sollten. Doch der Versuch, den Rohstoff der Seidenbandindustrie direkt vor den Toren der Fabriken herzustellen, scheiterte. Zwar gediehen die Maulbeerbäume, doch den Seidenraupen bekam das Klima nicht. Entweder blieben die Eier unfruchtbar oder den Raupen machten Krankheitserreger den Garaus. In vielen Gemeinden, die das Experiment mitgemacht hatten, verschwanden die Maulbeerbäume wieder. Doch in Sissachs «Griederland» blieben sie erhalten.
Strassenpläne
In der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg drohte das «Griederland» dem Autoverkehr zum Opfer zu fallen. Der Kanton plante in Fortsetzung der Umfahrungen von Liestal, Lausen und Itingen eine Expressstrasse, die der Ergolz entlang durch Sissach führen sollte. Der Kanton kaufte das Land der Familie Grieder, und vielen Hausund Landbesitzern entlang des Bachs drohte die Enteignung. So schauten sich etwa auch Helene Bossert und ihr Mann Ueli Fausch in der Bützenen seinerzeit nach einem neuen Wohnort um.
Doch diese Strassenpläne wurden nicht in die Tat umgesetzt. In den 1970er- und 1980er-Jahren gewann die Einsicht Oberhand, dass Expressstrassen nicht durch Siedlungsgebiete gebaut werden sollten. Die Erschliessung des oberen Kantonsteils und die Umfahrung Sissachs sollte mit einem Tunnel durch den Kienberg erfolgen.
Zu diesem Bewusstseinswandel trug in Sissach etwa die Arbeitsgemeinschaft für Natur- und Heimatschutz (AGNHS) bei. Ihre Mitglieder hatten ihr Augenmerk bereits um 1950 auf die Ergolz, ihre Uferzonen und damit auch auf das «Griederland» gelenkt. In einer gezeichneten Bestandesaufnahme, die der vor wenigen Jahren verstorbene Hans Buser in jungen Jahren erstellt hatte, fasste er den Zustand der Ergolz und ihrer Ufer mit drastischen Worten zusammen: Der ganze Bach sei mit «Abfällen aus Haus und Garten durchsetzt». Die Nägel der Holzpritschen bildeten «Abfall- und Altstoffsammler». Nach Hochwassern seien die «Ufer beidseitig stark von angeschwemmtem Unrat überhäuft.» Für die AGNHS bildeten die Abfallentsorgung, die Kanalisation von Abwässern und die Renaturierung der Bäche in den folgenden Jahrzehnten denn auch ein zentraler Arbeitsschwerpunkt.
Grüne Oase
Als der Bau der Expressstrasse entlang der Ergolz aus Abschied und Traktanden gefallen war, schlug die AGNHS zusammen mit einer Zukunftswerkstatt der Pro Natura, die sich für mehr Natur im Siedlungsraum einsetzte, die Umgestaltung des «Griederland»s und die Renaturierung des Diegterbachs vor. Die Gemeinde, die das «Griederland» vom Kanton zurückgekauft hatte, nahm diese Vorschläge auf und beschloss entsprechende Planungsund Investitionskredite. Im Jahr 2000 konnte das «Griederland» in seiner heutigen Gestalt eingeweiht werden.
Dem Lauf des ehemaligen Kanals folgt nun ein Spazierweg. Das Böschmattbächlein darf wieder ausgedohlt mäandrieren. Obst- und Maulbeerbäume behalten ihre angestammten Plätze. Die Ufer der Ergolz besitzen eine dichte und gepflegte Bestockung. Die betonierten Wasserfälle des Diegterbachs sind durch Blockwürfe ersetzt. Pflanzen können gedeihen und Fische wandern. Zusammen mit der Volière der Exotic besitzt Sissach damit mitten im Dorf eine grüne Naherholungszone.