Weit weg – ganz nah
28.12.2024 GelterkindenPersönliche Erinnerungen an die Tsunami-Katastrophe vor 20 Jahren
Am 26. Dezember 2004 ereignete sich im Indischen Ozean ein Seebeben, das eine verheerende Flutwelle auslöste und Tausende Menschenleben forderte. Glück im Unglück hatte damals Daniel Senn, der in ...
Persönliche Erinnerungen an die Tsunami-Katastrophe vor 20 Jahren
Am 26. Dezember 2004 ereignete sich im Indischen Ozean ein Seebeben, das eine verheerende Flutwelle auslöste und Tausende Menschenleben forderte. Glück im Unglück hatte damals Daniel Senn, der in Thailand weilte. Er schaut zurück und erzählt, wie es ihm seither ergangen ist.
Brigitte Keller
Am Tag der Katastrophe spürte Daniel Senn (60) beim Erwachen in seinem Bungalow Vibrationen. Er dachte aber nicht im Geringsten daran, dass es sich um ein Beben handeln könnte. Er nahm vielmehr an, dass es sich um Erschütterungen von einer nahe gelegenen Baustelle handeln könnte. Gegen 9.30 Uhr machte er sich in Phuket (Thailand) auf den Weg zum Strand. Kaum hatte er den Bungalow verlassen, bemerkte er eine grosse Aufregung. Menschen kamen aus der Richtung des Strandes gerannt und schrien, dass das Wasser komme. Das war kurz nach der ersten Welle. Der Gelterkinder Daniel Senn befand sich rund 600 Meter vom Strand entfernt.
Unmittelbar danach folgte eine zweite, noch verheerendere Welle. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde durch die Luft geschleudert und mitgerissen: Liegestühle, Motorräder, Autos, Boote – und Menschen. Niemand wusste, was gerade passiert. Daniel Senn dachte in den ersten Minuten an die Folgen eines gewaltigen Sturms draussen auf See oder an einen Bombenanschlag.
«Ich war nie wirklich in Gefahr. Wäre ich aber fünf Minuten früher zum Strand gegangen, wäre ich dort gewesen, als die Flutwelle eintraf. Ich konnte mich schnell in Sicherheit bringen. Das war wirklich grosses Glück», erzählt Senn 20 Jahre nach der Katastrophe. Auch sein Reisekollege hielt sich zu jenem Zeitpunkt in seinem Bungalow auf und war damit ebenfalls in Sicherheit. Später mussten sie sich immer wieder in Sicherheit begeben, da mehrfach Fehlalarme ausgelöst wurden.
Sie rannten zusammen mit vielen anderen panischen Menschen weiter weg vom Meer – weg vom Wasser in Richtung Dschungel und hin zu höher gelegenen Stellen. Dort klingelte plötzlich Senns Natel, doch es sei nur ein Knacken zu hören gewesen, eine Verbindung kam nicht zustande. Es war einer seiner Brüder, der versucht hatte, ihn zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt vermeldeten die Medien in der Schweiz die ersten Nachrichten von einem Beben rund um den Indischen Ozean.
Die Stunden danach
Langsam trauten sich äusserlich unverletzt Gebliebene – auch Daniel Senn und sein Kollege – wieder zurück in Richtung Hotel und Bungalow. Das Bild, das sich ihnen bot, war schrecklich, das Ausmass der Katastrophe unvorstellbar. Alle, die in der Lage waren, fingen sofort an, Verletzten zu helfen. Die Hilfsbereitschaft der Einheimischen sei überwältigend gewesen. Wer noch gehen konnte, wurde gestützt, andere getragen oder auf irgendwelchen Ladeflächen in Richtung Spital gebracht. Auch Daniel Senn half, so gut er konnte. Zusammen mit anderen hob er eine Frau mit schwersten Verletzungen auf eine Ladefläche. Und auf Hinweis anderer Helfenden habe er auch noch das Bein aufgehoben, das abgetrennt daneben lag.
Was ein Tsunami war und was er anrichten konnte, hatte bis zu diesem Zeitpunkt niemand geahnt. Davon hörten die Menschen – vor Ort und rund um den Globus – erst in den Stunden und Tagen danach. Die Aufnahmen und Berichte davon bleiben allen, die sie gesehen haben, für immer im Gedächtnis.
Das Jahr 2004 sei für ihn persönlich schon vor der Katastrophe ein schwieriges gewesen, erzählt Daniel Senn. Anfang Jahr sei damals sein Vater gestorben, und im Sommer folgte die Trennung von seiner Frau. Mit dem Start in die Ferien hätte es eigentlich wieder bergauf gehen sollen. Nach dem Aufenthalt in Phuket hatte er nach Vietnam weiterreisen wollen. Und dann, zum Zeitpunkt seiner geplanten Rückkehr Ende Januar, wollte er in eine neue Wohnung einziehen.
Nach der Katastrophe war nichts mehr wie zuvor. Die meisten Touristen wollten verständlicherweise so schnell wie möglich raus aus den zerstörten Orten und weg vom Verwesungsgeruch, der sich schnell ausbreitete und sich ins Gedächtnis einbrannte. Dem Kollegen von Senn, der damals zum ersten Mal nach Thailand mitgekommen war, sei es gelungen, zwei Tage später einen Flug nach Bangkok und von da zurück in die Schweiz zu ergattern. Er selber sei zuerst ratlos gewesen, wie es jetzt weitergehen soll. Doch dann war er froh, als er für den 29. Dezember ein Ticket nach Bangkok buchen konnte. Als er von der Fluggesellschaft aber gefragt wurde, ob er bereit wäre, den gebuchten Platz einer finnischen Familie mit Kindern abzutreten, damit sie zusammen zurückfliegen konnten, konnte er nicht Nein sagen.
Am nächsten Tag ging es dann auch für Senn zurück nach Bangkok. Es war der Tag und Ort, an dem sein Mobiltelefon wieder eine Verbindung hatte. «Ich weiss noch genau, dass ich in einem Taxi sass, als das Telefon klingelte», erzählt Daniel Senn. Es war einer seiner Brüder. Erst da erfuhr die Familie, dass er überlebt hatte und es ihm den Umständen entsprechend gut ging. Ab dem Zeitpunkt klingelte das Natel sicher noch bis zu 50 Mal: Familie, Kollegen und sein Arbeitgeber – alle hofften, ihn zu erreichen.
Die Wochen danach
Zuerst hatte Daniel Senn wie geplant weiterreisen wollen, aber dann merkte er, dass er das nicht mehr wollte und konnte. Also kehrte er am 6. Januar 2005 in die Schweiz zurück. Dort musste er zuerst einmal schauen, wo er unterkommen konnte, denn die neue Wohnung war noch nicht bereit. Nachdem er dieses Problem gelöst hatte, begann er auch sofort wieder zu arbeiten: «Ich wollte so schnell wie möglich in den Alltag zurück», sagt er. Damals geschah es auch, dass ihn ein Bekannter antraf und ihn erschrocken und sprachlos anstarrte. «Ich fragte ihn, ob er einen Geist gesehen habe», erzählt Daniel Senn. Der Kollege erwiderte, dass er tatsächlich angenommen habe, er sei tot, denn das habe man ihm kurz vorher berichtet. Immer häufiger sei er gefragt worden, ob es ihm gut gehe.
Daniel Senn war dieser Ansicht. Doch die Menschen in seinem Umfeld bemerkten, dass dem offensichtlich nicht so war. Er habe sich verändert und schien bedrückt. Die Personalchefin seines Arbeitgebers und weitere nahestehende Personen empfahlen ihm, sich professionelle Hilfe zu holen. Eine innere Unruhe fühlte er selbst auch – so nahm er den Rat an. «Das war das Beste, was ich machen konnte.»
Eine Möglichkeit, das Trauma verarbeiten zu können, so der Rat eines Fachmanns, bestünde darin, an den Ort des Geschehens zurückzukehren und sich mit den Geschehnissen zu konfrontieren. Und genau das tat Senn drei Monate nach der Katastrophe. «Es war zwar schwer, aber es hat mir extrem geholfen. Zu sehen, was alles schon in der kurzen Zeit in Angriff genommen wurde, diese Vorwärtsstrategie der Thais, das beeindruckte mich sehr. Natürlich waren die Schäden noch allgegenwärtig, Ruinen von Gebäuden und demolierte Busse waren zu sehen. Aber das Positive überwog eindeutig», so Daniel Senn.
Freunde gefunden und verloren
Bereits im Winter darauf verbrachte der Oberbaselbieter wieder – wie jedes Jahr seit 1988 – seinen Jahresurlaub in Thailand. Dort traf er auf langjährige Freunde und solche, die sich erst während der Tragödie gefunden hatten. Darunter auch solche, die während der Katastrophe einen Tauchausflug gemacht und sich zuerst lediglich darüber gewundert hatten, weshalb nach dem Auftauchen das Schiff ein paar Hundert Meter entfernt schwamm … Ein paar liebgewonnene Menschen aber hat er seither nie mehr gesehen. Ob sie umgekommen sind, was wahrscheinlich ist, oder ob sie weggezogen sind, bleibt offen.
Einige Zeit später wechselte Senn zu einem Unternehmen, das internationale Geschäftsbeziehungen pflegt. Für dieses ist er seit ein paar Jahren alle paar Wochen in verschiedensten Ländern unterwegs, unter anderem in Vietnam, Taiwan, Südkorea, Kambodscha, China und auch immer wieder in Thailand. Auch die Ferien 2024 inklusive Weihnachten verbringt der Gelterkinder in der Wärme Thailands. Er wird zuerst, wie schon ein paar Mal in den vergangenen Jahren, in den Nordosten von Thailand reisen und dann um Weihnachten herum in Phuket eintreffen, um am Ort des Geschehens den Jahrestag des Tsunamis zu verbringen.
«Seit 1988 reise ich regelmässig nach Thailand. Zähle ich alle meine privaten und geschäftlichen Aufenthalte zusammen, komme ich auf rund zehn Jahre Lebenszeit», sagt Senn. Schon vier Mal habe er einen neuen Pass machen lassen müssen, weil darin keine weiteren Einreisestempel mehr Platz gehabt hätten. «Ich mag die Menschen in Thailand, ihre Mentalität, ihre Emotionalität, ihre Philosophie. Und die traumhaft schöne Natur, das warme Klima, das gute Essen.»
Senn freut sich sehr darüber, dass sich das Image Thailands in den vergangenen Jahren stark verändert habe. «Früher reisten ja fast ausschliesslich Männer nach Thailand, heute sind mehr als die Hälfte Frauen und Familien. Das ist toll für dieses wunderschöne Land.»
Emotionen kommen hoch
Daniel Senn ist froh und dankbar, dass er die Tsunami-Katastrophe damals überlebt hat. Das Erlebte sei mittlerweile weit weg, habe aber tiefe Spuren hinterlassen und bleibe eine Erfahrung für das ganze Leben. Viel Zeit ist seither vergangen, doch beim Erinnern und Erzählen kämen wieder viele Eindrücke und Emotionen hoch von einer Welt, in der von einer auf die andere Minute nichts mehr war wie zuvor.
Von der finnischen Familie, denen Senn sein erstes Ticket raus aus Phuket abgetreten hatte, hätte er gerne gewusst, wie es ihr danach ergangen ist. Leider habe er damals versäumt, sich die Kontaktdaten geben zu lassen.
Den Dokfilm des Schweizer Fernsehens zum Tsunami-Jahrestag habe er sich nicht angeschaut. Er habe nach der Katastrophe sehr viele Sachen gehört, gesehen, gelesen. Darunter auch Dinge, die nicht dem entsprachen, wie und was er erlebt habe. Daniel Senn: «Ich habe meine eigene Geschichte.»
Die Katastrophe
bke. Vor 20 Jahren, am 26. Dezember 2004, ereignete sich in den Morgenstunden im Indischen Ozean ein Seebeben, entstanden durch die Entladung zweier aufeinanderdriftenden Erdplatten. Mit einer Stärke von 9,3 auf der Richterskala war es das bis dato stärkste je gemessene Beben. Der dadurch verursachte Tsunami riss in den angrenzenden Ländern schätzungsweise 230 000 Menschen in den Tod. Darunter befanden sich mindestens 113 Menschen aus der Schweiz.