Wann ist weniger mehr?
24.10.2025 PolitikFredy Dinkel, Landrat Grüne, Ziefen
In den Herbstferien waren wir in Süditalien und haben Matera besucht, eine Stadt oberhalb einer Kalksteinschlucht, in der es unzählige Höhlen gibt. Ein Ort, an dem seit 10 000 Jahren Menschen leben. Bis in die ...
Fredy Dinkel, Landrat Grüne, Ziefen
In den Herbstferien waren wir in Süditalien und haben Matera besucht, eine Stadt oberhalb einer Kalksteinschlucht, in der es unzählige Höhlen gibt. Ein Ort, an dem seit 10 000 Jahren Menschen leben. Bis in die 1960er-Jahre haben dort Menschen in Höhlen, den sogenannten Sassi, gewohnt. Dies unter Bedingungen, die für uns unvorstellbar sind. In Höhlen mit drei Nischen lebten Familien mit einer grossen Kinderschar. In der einen Nische haben sie geschlafen, eine beherbergte die Küche und das Esszimmer und in einer hielten sie Haus- und Nutztiere. Es gab weder sanitäre Einrichtungen noch Strom. Diese unsäglichen Bedingungen galten als die Schande Italiens und um diesem Elend ein Ende zu setzen, baute die Regierung Wohnungen, hat die Menschen umgesiedelt und die Höhlen verschlossen.
Jahrzehnte später wurde der historische und kulturelle Wert der Sassi erkannt und es erfolgte eine Restaurierung und Wiederbesiedlung unter entsprechenden Auflagen. Die Behausungen wurden zu Museen, Restaurants oder Hotels umgebaut und heute ist Matera ein Unesco- Weltkulturerbe, das von Touristen überschwemmt wird. Es ist eine eindrucksvolle Stadt in einer faszinierenden Umgebung.
Bei unserem Rundgang hat uns ein alter Mann angesprochen und wollte uns eine Höhle zeigen, in der damals Wein hergestellt und gelagert wurde. Als gute Schweizer waren wir misstrauisch. «Was will der von uns? Der will sicher Geld, denn ohne Eintritt geht gar nichts in den Sassi.» Doch er wollte uns nur seine Erfahrung weitergeben. Als Kind hatte er noch in den Sassi gelebt. Heute lebt er in einer von der Regierung zur Verfügung gestellten Wohnung und erhält eine Rente. Er ist dankbar für fliessendes Wasser, Strom, Küche und alles, was eine moderne Wohnung bietet.
Aber der Preis dafür sei der Verlust von Gemeinschaft und gelebter Kultur. Zudem beschäftigt ihn der Überfluss sehr, sodass er sich nicht sicher ist, ob der Verlust nicht grösser war als der Gewinn. Immer wieder hat er eindringlich betont: «Weniger ist mehr.» Dieser Satz beschäftigt mich seither. Als Tourist ist es interessant, aber romantisch war das sicher nicht und man kann sich nicht vorstellen, in den Höhlen der 1950er-Jahre zu leben. Auch ich will die Errungenschaften, von Heizung über ein gutes Bett bis zur medizinischen Versorgung, nicht missen. Doch wann führt mehr zu weniger Lebensqualität? Wann wird Überfluss zur Last?
Seit 1960 hat sich die Menge der Güter, die wir brauchen oder besitzen, alle 10 Jahre verdoppelt. Das heisst, heute haben wir rund 60-mal mehr Güter als die Menschen vor 60 Jahren. Das ist nicht nur für das Ökosystem der Erde, das nahe an kritischen Kipppunkten steht, problematisch, sondern belastet auch jeden persönlich. Sei es durch den notwendigen Unterhalt, den vermeintlichen Zwang, das Neuste zu besitzen oder den Druck, zu entsorgen, um wieder Raum zum Atmen zu haben.
Vergangenen Samstag war ich am Geburtstagsfest von zwei Freunden, die sich seit der Lehre vor mehr als 50 Jahren kennen. Es war eindrücklich zu sehen, wie sie ihre Freundschaft pflegen und zeigte mir, dass wir eigentlich neben den Grundbedürfnissen nicht viel mehr als gute Freundschaften brauchen.
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.

