Vom Triumph des zivilen Widerstands
01.04.2025 BaselbietAm 1. April 1975 begann die zweite Besetzung des Geländes des geplanten Atomkraftwerks Kaiseraugst. Mit gewaltfreiem Widerstand gelang es, den Bau zu verhindern. Der Sissacher Historiker und damalige Aktivist Ruedi Epple blickt auf eine Bewegung zurück, die zumindest die Region ...
Am 1. April 1975 begann die zweite Besetzung des Geländes des geplanten Atomkraftwerks Kaiseraugst. Mit gewaltfreiem Widerstand gelang es, den Bau zu verhindern. Der Sissacher Historiker und damalige Aktivist Ruedi Epple blickt auf eine Bewegung zurück, die zumindest die Region nachhaltig veränderte.
Ruedi Epple
Im Spätsommer 1973 wies das Bundesgericht die Einsprachen gegen den Bau des Atomkraftwerks Kaiseraugst (AKW Kaiseraugst) letztinstanzlich ab. Dem Bau des atomaren Meilers vor den Toren der Stadt Basel stand damit nichts mehr im Weg.
Die Region am Oberrhein drohte zu einer der am dichtesten mit Atomkraftwerken besetzten Gegenden zu werden. Die AKW-Gegnerinnen und -Gegner waren in der Region durch das «Nordwestschweizerische Aktionskomitee gegen das AKW Kaiseraugst» (NWA) und die «Kaiseraugster für gesundes Wohnen» vertreten. Nach ihrer Niederlage vor Bundesgericht hielten sie einmal mehr Versammlungen ab und verabschiedeten Protestresolutionen. Die Frage aber, wie das AKW Kaiseraugst trotz der Niederlage vor Gericht noch zu verhindern wäre, hinterliess Ratlosigkeit. Das Bundesgericht war die letzte Instanz. Bis eine Volksinitiative hätte wirksam sein können, wäre aus den Kühltürmen in Kaiseraugst längst Dampf aufgestiegen.
Ratlosigkeit überwunden
In dieser als Notlage empfundenen Situation schlugen junge Leute aus dem Umfeld der Baselbieter Jungsozialisten vor, den Bau des AKW Kaiseraugst durch gewaltfreie, direkte Aktionen zu verhindern. Im Herbst 1973 gründeten sie die «Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst» (GAK). Zwischen Weihnachten und Neujahr des gleichen Jahres führten sie eine symbolische Besetzung des künftigen Baugeländes in Kaiseraugst durch. Bei klirrender Kälte harrten sie mehrere Tage in Zelten und Schlafsäcken aus. Damit wollten sie der Bevölkerung der Region vor Augen führen, was zu geschehen hätte, wollte man das AKW noch verhindern.
Die Aktion war ein Erfolg. Mehr als 300 Menschen besuchten die jungen Besetzerinnen und Besetzer auf dem AKW-Gelände. Die Presse berichtete ausführlich. Die Ratlosigkeit war überwunden. Die Voraussetzungen für einen Mobilisierungsprozess in der ganzen Region waren geschaffen. Die Besucherinnen und Besucher der symbolischen Besetzung bildeten neben den bereits bestehenden Organisationen den Grundstock der sich herausbildenden Bewegung gegen die geplante Atomanlage.
15 Monate und eine Grossveranstaltung im September 1974 mit 3000 Teilnehmenden später trat der in Aussicht gestellte und gut vorbereitete Ernstfall ein: Am 1. April 1975 – wenige Tage vorher waren Bagger aufgefahren – setzte die inzwischen in der ganzen Region mit Ortsgruppen vertretene GAK ihren Notfallplan um: Sie besetzte das Baugelände, vereitelte die Fortsetzung der Bauarbeiten und rief zu einer weiteren Grossveranstaltung auf. Erneut kamen mehrere Tausend AKW-Gegnerinnen und -gegner zusammen und bezeugten, dass die Besetzungsaktion der GAK auf ihre Unterstützung zählen konnte.
Grosse Solidarität
Auf dem Gelände löste nach und nach ein Hüttendorf die Zelte ab. Ein Verpflegungsdienst wurde eingerichtet. So lieferte etwa die landwirtschaftliche Schule Ebenrain in Sissach Gemüse und Salate. Tag für Tag solidarisierten sich weitere Organisationen mit der GAK. Während tagsüber nur wenige «ständige» Besetzerinnen und Besetzer auf dem Gelände präsent waren, kamen jeden Abend mehrere Dutzend bis mehrere Hundert und bei wichtigen Entscheidungen auch mehrere Tausend Personen auf dem Gelände zu «Vollversammlungen» zusammen.
Auch für den Fall einer polizeilichen oder militärischen Räumung der Besetzung war man vorbereitet. Ein Alarmierungsplan hätte dafür gesorgt, dass innert kurzer Zeit mehrere Tausend Unterstützerinnen und Unterstützer aus allen Richtungen aufs Baugelände geströmt wären. Schülerinnen und Schüler hätten ihre Klassen verlassen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umliegender Industrie- und Dienstleistungsbetriebe hätten ihre Überzeit kompensiert. Die Masse der alarmierten AKW-Gegnerinnen und -Gegner hätten ein Verkehrschaos angerichtet und eine Räumung vereitelt oder rückgängig gemacht. Einige Wochen vorher war das bereits auf dem Baugelände des AKW Wyhl am Kaiserstuhl (D) gelungen.
Täglich trat in Kaiseraugst eine sogenannte «erweiterte Kerngruppe» zusammen. Sie bereitete die Vollversammlungen vor, löste alltägliche Probleme einer Besetzung und beriet über das weitere Vorgehen. Bereits nach wenigen Tagen der Besetzung hatten prominente Leute aus dem Umfeld der Bewegung, wie die Nationalräte Alexander Euler von den Sozialdemokraten und Hansjörg Weder vom «Landesring der Unabhängigen», Kontakte mit der Bauherrschaft und den Behörden bei Bund und Kantonen geknüpft. Sie wollten eine friedliche Beendigung der gewaltfreien, direkten Aktion und Verhandlungen über die Zukunft des AKW-Projekts herbeiführen.
Solche Bestrebungen waren in der erweiterten Kerngruppe und an den Vollversammlungen hart umkämpft. In diesen Gremien waren längst nicht mehr allein die «Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst», das NWA oder andere, eher gemässigte Kräfte vertreten. Auch radikale politische Parteien wie die «Progressiven Organisationen der Schweiz» (Poch) oder die «Revolutionäre Marxistische Liga» (RML) fanden in diesen Gremien Gehör.
Nach elf Besetzungswochen entschied eine gut besuchte Vollversammlung, die Besetzung am 11. Juni 1975 einzustellen und in Verhandlungen mit dem Bundesrat zu treten. Zuletzt war es in den Gesprächen zwischen Vermittlern und Behörden um die Frage eines vorläufigen Baustopps sowie eines Zauns gegangen. Dieser hätte nach der friedlichen Räumung um das Baugelände errichtet werden sollen. Die radikalen Kräfte unter den Besetzerinnen und Besetzern wollten keinen Zaun, um das Gelände jederzeit wieder besetzen zu können. Schliesslich lenkte die Bauherrschaft ein und eine Mehrheit der zur Vollversammlung zusammengetretenen AKW-Gegnerinnen und -Gegner stimmte der Räumung zu.
Wenig später nahmen Vertreterinnen und Vertreter der Anti-AKW-Bewegung und des Bundes unter der Leitung von Energieminister Bundesrat Willy Ritschard Verhandlungen auf. Sie traten zu mehreren Verhandlungsrunden und Expertengesprächen zusammen und vereinbarten beispielsweise eine Studie, welche die klimatischen Einflüsse der Kühltürme abzuklären hatte. Währenddessen ruhten die Bauarbeiten auf dem Gelände.
Ermüdungserscheinungen
Die breite Bewegung, welche die Besetzung getragen hatte, zerbrach. Es waren gemässigte Kräfte der «alten» GAK, die wenige Wochen nach der Räumung die Einigkeit aufkündigten. Sie wollten – ermüdet durch die harten politischen Auseinandersetzungen in Kerngruppe und Vollversammlungen – zu ihrer Praxis von vor der Besetzung zurückkehren. Die übrigen Kräfte sammelten sich unter dem Namen «Gewaltfreie Aktion gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst» (GAGAK). Für einen gewissen Zusammenhalt der Bewegung sorgten danach die gemeinsame Verhandlungsdelegation sowie eine spontan gebildete Gruppe, die in den folgenden Jahren sogenannte «Pfingstmärsche» organisierte. Diese sollten den Widerstand gegen das schweizerische Atomprogramm aus der Region Basel nach Graben, Leibstadt und Gösgen tragen.
Parallel dazu kehrte die Bewegung der AKW-Gegnerinnen und -Gegner von den gewaltfreien, direkten Aktionen auf die institutionelle Ebene der politischen Einflussnahme zurück. In mehreren Kantonen verlangten Volksinitiativen, dass deren Behörden alles unternehmen müssten, um ein AKW zu verhindern. Zumindest in den beiden Basel waren diese Vorstösse erfolgreich. Auf eidgenössischer Ebene hielten in den Jahren nach der Besetzung mehrere Volksinitiative den Druck der Anti-AKW-Bewegung aufrecht.
Es begann mit der Initiative «zur Wahrung der Volksrechte und Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» über die 1979 abgestimmt wurde. Es endete nach zwei weiteren Vorstössen 1990 mit der Initiative für den «Stopp dem Atomkraftwerkbau». Bis auf diese letzte Abstimmung über ein Moratorium beim Bau von Atomkraftwerken, das eine Mehrheit von 54 Prozent der Stimmenden gutgeheissen hatte, waren alle Initiativen der AKW-Gegnerschaft gescheitert. Doch hatten die hohen Ja-Stimmen-Anteile von 45 und mehr Prozenten ausgereicht, den Druck aufrecht zu erhalten.
In der Region Basel blieb der Widerstand gegen die Atomkraftwerke trotz der Spaltung der Anti-AKW-Bewegung stark. Das zeigte sich etwa auch in Sissach. Hier war beispielsweise der Unternehmer Johann Rudolf Gunzenhauser ein prominenter Fürsprecher der Kaiseraugster Atomanlage. Trotzdem erreichten in Sissach drei der vier eidgenössischen Volksinitiativen der Anti-AKW-Bewegung Ja-Mehrheiten zwischen 58 und 60 Prozent. Nur gerade die Initiative für den Ausstieg aus der Atomenergie, die 1990 gleichzeitig mit der Moratoriumsinitiative zur Abstimmung gelangte, erlitt auch in Sissach Schiffbruch.
Schwindendes Vertrauen
Zur stabilen oder sogar zunehmenden Stärke der AKW-Gegnerinnen und -Gegner trugen auch die Störfälle in den Atomanlagen von Harrisburg in den USA (1979) und Tschernobyl in der damals noch bestehenden Sowjetunion (1986) bei. Diese liessen das Vertrauen in die Atomkraft in der Schweiz weiter sinken. Entsprechend nahm der Rückhalt der Anti-AKW-Bewegung weiter zu und erfasste mehr und mehr auch bürgerliche Kräfte, die bis anhin zur Atomkraft gehalten hatten.
Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der Atomenergie sorgte dafür, dass sich das schweizerische Atomprogramm verzögerte: Erstens änderte sich nach und nach die Rechtslage. AKW-Projekte mussten mit der Zeit strengere Auflagen erfüllen, was Projektänderungen nach sich zog. Zweitens änderten sich die technischen Voraussetzungen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die alten Projekte erwiesen sich als technisch überholt und ihre Wirtschaftlichkeit war nicht mehr in jedem Fall gegeben. So wuchsen auch innerhalb der Atomwirtschaft und aufseiten der Behörden die Vorbehalte gegenüber dem Bau neuer Atomkraftwerke und insbesondere gegenüber dem AKW Kaiseraugst.
Schliesslich fand im Parlament, im Bundesrat und bei der Betreiberfirma der Vorschlag Gefallen, auf den Bau des AKW Kaiseraugst zu verzichten. Die Betreiberfirma liess sich den Verzicht mit einer Zahlung in der Höhe von 350 Millionen Franken entschädigen. Sie zog diese Abfindung dem wenig aussichtsreichen Festhalten an einem nach wie vor auf Widerstand stossenden und zudem technisch veralteten sowie wirtschaftlich fragwürdigen Projekt vor.
Historiker Ruedi Epple (73) lebt in Sissach. Lesen Sie in der «Volksstimme» vom Donnerstag das grosse Interview mit Ruedi Epple zu seiner Rolle und seinen Erinnerungen im Zusammenhang mit der Besetzung des AKW-Geländes in Kaiseraugst.