Vom Haus und von Häusern
15.08.2025 SissachDas ist Sissach (32. Teil) | Was uns die «Holzhütte» auf dem Kreisel sagen will
Die Kunstinstallation «Holzhütte» auf dem westlichen Kreisel vor Sissach thematisiert das Dorf als Wohnort und dessen Geschichte. Grund genug, in die ...
Das ist Sissach (32. Teil) | Was uns die «Holzhütte» auf dem Kreisel sagen will
Die Kunstinstallation «Holzhütte» auf dem westlichen Kreisel vor Sissach thematisiert das Dorf als Wohnort und dessen Geschichte. Grund genug, in die örtliche Siedlungsgeschichte einzutauchen.
Ruedi Epple
«Die legitime Ausübung von Macht und Gewalt im Alten Europa gründet im Haus», schrieb der lange in Bern tätige, inzwischen verstorbene Historiker Peter Blickle 2008. Nach seinen Forschungen strukturierten die Häuser die damalige Gesellschaft in zwei Dimensionen: Vertikal reichte die feudale Herrschaftspyramide vom «Haus des Bauern» ganz unten bis zum «Königshaus» ganz oben. In der Horizontalen bildete sich in den entstehenden Gemeinden das nachbarschaftliche Nebeneinander prinzipiell gleichwertiger «Häuser» und «Haushaltsvorstände» heraus.
Es steht im Einklang mit Blickles Forschungsergebnissen, wenn das Team um die Künstlerin Sabine Gysin mit einem Haus auf die vor mehr als 800 Jahren erfolgte Entstehung der Gemeinde Sissach aufmerksam macht. Im Haus hatte – von Ausnahmen abgesehen – der Hausvater das Sagen. Dem Haus galt der Hausfrieden. Ans Haus waren die Rechte und Pflichten gebunden.
Im frühen Mittelalter bestanden noch keine Dörfer in unserem heutigen Sinne. Den damaligen Siedlungen fehlte es an einer festen baulichen Struktur und vor allem an der Organisationsform der Dorfgemeinschaft. Die Siedlungsform «Dorf» und damit die Dörfer in unserer Gegend entstanden erst in einem lange dauernden Prozess, der vor rund 1000 Jahren einsetzte. Diesen Prozess bezeichnet die Wissenschaft mit dem Begriff der «Verdorfung»: Bauernhöfe, die bis anhin locker um verstreute Herren- und Fronhöfe gruppiert waren, konzentrierten sich an geeigneten Orten und entwickelten sich zu Dörfern.
Idealer Ort
Der Ort, an dem Sissach entstand, war deshalb für eine verdichtete Dorfsiedlung geeignet, weil hier die Täler von drei Bächen aufeinandertrafen. Dadurch bot er günstige Verkehrsverbindungen über die Schafmatt, den unteren Hauenstein und den Chilchzimmersattel. Zudem war das Tal vergleichsweise weit und flach und bot ausgedehnte Felder und Matten, die sich leicht bewirtschaften und bewässern liessen.
Schliesslich war Sissach von Hügeln umgeben, die im Falle der Burg Bischofstein der niederadeligen Familie der Eptinger als exponierter Wohnsitz dienen konnten. In früheren Zeiten hatten die Sissacher Fluh und der Burgenrain auch den einfachen Leuten Schutz geboten.
Die benachbarten Haushaltsvorstände solcher Orte organisierten sich als Dorfgemeinschaft oder «Hausväterdemokratie». «In der Gemeindeversammlung», schrieb Dorothee Rippmann in der «Baselbieter Geschichte», «haben die Hausväter als Hofinhaber Einsitz und Mitsprache.» Sind diese abwesend, können auch Frauen das Haus vertreten.
Erst im Spätmittelalter war der Prozess der «Verdorfung» abgeschlossen und hatten sich die Gemeinden als eigenständige rechtlich-ökonomische Institutionen etabliert. Erst jetzt kontrollierten sie die eigenen Kirchen, Pfründen und Pfarrer. Erst jetzt sprachen sie untereinander den Anbauzyklus, die Erntezeiten, die Wegerechte und andere wirtschaftliche Belange ab. Erst jetzt hatten sie so viel an Selbstbewusstsein und politischer Handlungskompetenz erworben, um ihre Interessen gegenüber den Grundherren, denen sie Abgaben und Fronen leisten mussten, vertreten und verteidigen zu können.
Kleines, aber wichtiges Dorf
Sissach war die wichtigste Gemeinde im Sisgau oder später im Amt Farnsburg, wie Teile des Oberbaselbiets im Laufe der Zeit genannt wurden. Hier traf sich das Gericht, hier stand auf dem «Glunggisbühl» beim heutigen Ebenrain eine Richtstätte, hier fanden Märkte statt, hier kreuzten sich wichtige Transportwege, hier wurden Getreide umgeschlagen und Zoll erhoben.
Doch trotz seiner Wichtigkeit: Für unsere Begriffe war Sissach noch im Spätmittelalter ein kleines Dorf. Um das Jahr 1500 zählte es rund 100 Einwohner in lediglich 36 Haushalten. Die vorherrschende Form war dabei die Familie mit zwei Generationen. Nur gerade in sechs dieser Haushalte lebten neben dem Ehepaar und den Kindern auch Gesinde.
Um 1690, als Georg Friedrich Meyer den Zehntenplan von Sissach aufnahm, erfasste er rund 120 Häuser. Sie standen in T-Form entlang der heutigen Rheinfelderstrasse als senk- und der heutigen Hauptstrasse als waagrechtem Balken. In diesen Häusern lebten damals geschätzte 600 Personen. Sissach war somit in rund 190 Jahren um rund 90 Häuser und 500 Personen angewachsen. Die Haushaltsgrösse hatte im Durchschnitt von 3 auf 5 Personen zugenommen.
Besondere Häuser waren in dieser Zeit die Schmieden, Mühlen und Wirtshäuser. Sie wurden von der Obrigkeit speziell kontrolliert. Wer sie bewirtschaftete, brauchte eine Konzession, war mit besonderen Auflagen konfrontiert und mit zusätzlichen Abgaben belastet. In der Dorfgemeinschaft nahmen Schmiede, Wirte und Müller besondere Rollen ein. Weil viele Leute in ihren Häusern verkehrten, waren sie wie Vögte, Bannwarte und Geschworene gut informiert und einflussreich.
Holz und Stein
Die Kunstinstallation auf dem Kreisel ist als Hütte aus Holz gestaltet worden. Damit ist ein weiterer zentraler Punkt angesprochen. Denn als Sissach entstand, waren die wenigsten Häuser aus Stein gebaut. Das vorherrschende Baumaterial war Holz aus dem umgebenden Wald. Dort fand man auch Brennmaterial, Pilze, Beeren und Kräuter oder Laub zum Stopfen von Säcken, die als Bettstatt dienten.
Das Leben der meisten Bewohnerinnen und Bewohner von Sissach war ausgesprochen karg. Grundlage war eine Landwirtschaft, die sich an der Selbstversorgung orientierte. Nur ein kleiner Teil des Ertrags fand den Weg auf die Märkte. Der Haushalt sorgte für seine «Hausnotdurft», also für das, was er zum Leben brauchte. Auf diese hatte er auch Anspruch, wenn er in Armut geriet und auf Unterstützung der Gemeinde angewiesen war.
Obst und Gemüse wuchs in den Gärten, welche die Häuser umgaben. Sommer- und Wintergetreide pflanzte man im Turnus mit der Brache auf den das Dorf umgebenden Zelgen. Vom Getreideertrag zwackten die Grundherren den zehnten Teil ab. Nach Schätzungen von Pfarrer Markus Lutz, die dieser 1805 in den «Neuen Merkwürdigkeiten der Landschaft Basel» anstellte, sollen Mitte des 18. Jahrhunderts aus Sissach pro Jahr durchschnittlich etwa 120 Zentner Getreide an die Obrigkeit abgeführt worden sein. Jedes Haus hatte auch tatkräftig an die Gemeinschaftsaufgaben im kommunalen Gesamtinteresse beizutragen – so etwa beim Unterhalt von Wuhren und Wegen oder bei Arbeiten im Wald und auf der Weide.
Höherer Wohlstand, mehr Stein
Die Armut führte dazu, dass sich die Leute ausserhalb ihres eigenen Haushalts um Zusatzverdienste bemühen mussten. Sei es, dass sie sich als Taglöhner bei grösseren Bauern verdingten oder ein Handwerk auszuführen begannen. Sei es, dass sie sich um einen Posamenterwebstuhl bewarben, auf dem sie im Auftrag der Basler Verlagsherren Seidenbänder woben. 1754 standen in den Sissacher Häusern 64 Webstühle. 100 Jahre später hatte sich deren Zahl auf 163 Stück erhöht. Weil zu diesem Zeitpunkt auch die ersten Seidenbandfabriken entstanden, ging die Zahl der Posamenterstühle, die in den Häusern stampften, in den Folgejahren wieder zurück.
Der langsame Abschied von der Kargheit des Lebens schlug sich auch bei den Häusern nieder. Immer mehr davon wurden in Stein gebaut. Auch der Wohnraum, der einem Haushalt zur Verfügung stand, vergrösserte sich stetig. Mit dem zunehmenden Wohlstand verlagerten sich die Probleme: Nicht mehr die Knappheit, sondern der Überfluss rückte ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Auch diesen Aspekt thematisiert das Künstlerteam, das uns zum Jubiläum mit seiner Kreisel-Installation einen Denkanstoss gibt.
Wie Sissach zu dem wurde, was es ist
Nicht nur das Haus auf dem Kreisel West, auch die heute in Sissach bestehenden Gebäude erzählen Geschichte. So verraten die Baujahre, die das eidgenössische Gebäudeverzeichnis erfasst, etwas über die Siedlungsentwicklung des Dorfes.
Die ältesten, noch heute bestehenden Gebäude entstanden im frühen 16. Jahrhundert. Es handelt sich um die Kirche St. Jakob innerhalb und die Säge ausserhalb des «Etters». Dieser war ein «Lebhaag», der das Siedlungsgebiet von den umliegenden Matten und Äckern abtrennte und wie eine Baugebietsgrenze wirkte. Im 17. Jahrhundert kamen Gebäude im Umfeld der ältesten Bauten dazu. Im 18. Jahrhundert entstanden im Ebenrain und am Südhang Gebäude ausserhalb des Etters. Diese Entwicklung setzte sich im 19. Jahrhundert fort. Die Begrenzung durch den Etter entfiel und das «T» entlang der heutigen Haupt- und Rheinfelderstrasse zeichnete sich deutlich ab. Zudem führte die Aufhebung des Flurzwangs dazu, dass die Nebenhöfe entstanden.
Die Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert spiegelte zunächst die Ausdehnung der Bauzone. Unter dem Einfluss der seit 1850 erfolgten Erschliessung durch die Eisenbahn und der Industrialisierung erweiterte sich der Dorfkern und es entstanden in der Bützenen und südlich der Bahnlinie neue Quartiere.
Der ab 1956 gültige erste Zonenplan zeichnete diese Entwicklung nach und sah davon ausgehend arrondierende Baulandreserven vor. So konnte das Siedlungsgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg in Richtung Fluh und Zunzgen weiter wachsen. Die Baulandreserven wurden in dem ab 1967 gültigen zweiten Zonenplan nochmals grosszügig erweitert. Geplant wurde ein Sissach mit rund 14 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Mit dem Autobahnanschluss verlagerten sich die Gewerbe- und Industriegebäude in Richtung Netzen.
In der Phase nach der Jahrtausendwende blieben eingezonte, bis anhin aber frei gebliebene Gebiete in der Grienmatt, am Rebberg, in der Böschmatt, im Berg sowie im Reusli. Parallel dazu stellte sich in den letzten beiden Phasen eine kontinuierliche Verdichtung bereits früher überbauter Quartiere ein.
Ruedi Epple
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Laufend: Vergangenheit und Gegenwart im Dialog. Alte Gemälde und Zeichnungen hängen im Gemeindehaus aktuellen Fotografien gegenüber. Die Ausstellung ist zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus zu sehen.
Bis 29. August: «Hanny-Moolerei» – ein interaktives Projekt mit Musik (Deborah Regez) und Malerei (Heinke Torpus). Am «Schluuch» hinter dem «Cheesmeyer».
15. August: Lesung aus dem Buch «Der Landjäger». Der Autor Heiner Oberer liest Ankdoten und Geschichten aus dem Leben des ehemaligen Ortspolizisten Matthias Bitterlin. Im Jakobshof um 19 Uhr.
16. August: Unter dem Titel «Schlaflos in Sissach» öffnen sich die meisten Restaurants und Bars von Sissach diesen Samstagabend. Alle werden entweder einen DJ haben oder eine Band, welche die nächtlichen Gäste unterhalten. Freinacht bis morgens 2 Uhr.