Uhr des Lebens gibt Takt vor
31.05.2024 SissachMax Utiger feiert am Sonntag seinen 100. Geburtstag
Nach 100 Lebensjahren weiss Max Utiger viel zu erzählen. Zum Beispiel, wie es ihn vor 60 Jahren nach Sissach verschlagen hat, wo er seine grosse Liebe fand und wo er sich 24 Jahre politisch engagierte. Um den Geist wach zu halten, ...
Max Utiger feiert am Sonntag seinen 100. Geburtstag
Nach 100 Lebensjahren weiss Max Utiger viel zu erzählen. Zum Beispiel, wie es ihn vor 60 Jahren nach Sissach verschlagen hat, wo er seine grosse Liebe fand und wo er sich 24 Jahre politisch engagierte. Um den Geist wach zu halten, hält er sich neben regelmässigen Jassrunden mit dem Notebook fit.
Heiner Oberer
Mittagsschlaf? Ach wo, sagt Max Utiger. Mit einem schelmischen Schmunzeln im Gesicht fügt er an: «Doch. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich nach dem Mittagessen kurz auf dem Sessel eingeschlafen bin. Ich ziehe es aber vor, in der Nacht zu schlafen.» Sagt es und lehnt sich in seinem Zimmer im Zentrum für Pflege und Betreuung Mülimatt in Sissach auf besagtem Sessel entspannt zurück. Er habe – wie immer – gut gespiesen und sei jetzt gespannt, was denn der Schreibende von ihm wissen wolle. Sollte ihn für einmal das Gedächtnis im Stich lassen, habe er seine Nichte Yvonne Schaffner als «Ersatzgedächtnis» hinzugezogen.
Max Utiger, geboren am 2. Juni 1924 und aufgewachsen im beschaulichen Dorf Zauggenried im Bernbiet, wo seine Eltern ein Gasthaus führten, musste schon als kleiner Bube im Betrieb mithelfen. Utiger nickt: «Das hat sicher nicht geschadet und hat mich gelehrt, anzupacken», sagt er. Nach dem frühen Tod seines Vaters und einer schweren Krankheit seiner Mutter müssen sie den Gasthof aufgeben. Zusammen mit der Grossmutter und dem sieben Jahre älteren Bruder ziehen sie zu Verwandten auf einen Bauernhof, wo sie im «Stöckli» eine Bleibe finden. «Wir mussten bescheiden durchs Leben», sagt er.
Bei der SP für die Arbeiter
Beim Gespräch fällt immer wieder auf, wie ruhig und überlegt der 99-jährige ehemalige Sissacher Gemeinderat im Oberaargauer Dialekt erzählt. Einen Dialekt, den er auch nach rund 60 Jahren in Sissach nicht abgelegt hat. «Warum auch?», sagt er. Ruhe, Bescheidenheit und Harmonie. Das sind vermutlich die Eigenschaften, die Utiger geholfen haben, die Krisenzeit in den 1930er-Jahren und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Kind und Jugendlicher zu überstehen. In diese Zeit fällt auch der Entscheid, wohl unter dem Eindruck der damals herrschenden Arbeitslosigkeit, der SP beizutreten. Wo er sich, nicht als strammer Parteisoldat, für die Belange der Arbeiter einsetzt.
Er erinnere sich noch gut, wie schwierig es gewesen sei, mitten im Zweiten Weltkrieg eine Lehrstelle als Metzger zu finden. «Zu guter Letzt habe ich schliesslich in der ehemaligen Metzgerei Ochsen in Langenbruck eine Lehrstelle gefunden.» Wieder spürt man, wie dankbar Utiger für die positive Fügung in seinem Leben ist. Für ihn habe sich, wie er sagt, immer das eine zum anderen gefügt. Nach erfolgreich absolvierter Lehre und einem Jahr auf Wanderschaft strandet er in Sissach, wo er drei Jahre in der ehemaligen «Schlyyffi-Metzg» von Franz Grieder arbeitet.
Auf die Frage, welches Ereignis ihn in seinem langen Leben am meisten geprägt hat, kommt es wie aus der Pistole geschossen: «Das war die Bekanntschaft mit Margrit Gysin.» Auch hier führt wieder der Zufall Regie oder wie es Utiger sagt: «Man muss halt im richtigen Moment am richtigen Ort sein.» Margrit Gysin ist Köchin im ehemaligen Restaurant Brüggli in Sissach, das von ihren Eltern geführt wird. Wohl angetan von den Kochkünsten der Köchin, verliebt sich Utiger in die junge Frau. Schon bald wird geheiratet und ein paar Jahre später kommt Tochter Ursula zur Welt, die jetzt in Deutschland wohnt. Utiger präzisiert: «Es waren nicht nur die Kochkünste, die mich in die Arme meiner zukünftigen Ehefrau getrieben haben. Ich war angetan von ihrem Arbeitswillen, auch wenn ihr gelegentlich resoluter Umgang mit den Gästen nicht immer gut ankam.»
«Kein ‹Polteri›»
Frisch verheiratet und besorgt, der Familie ein möglichst angenehmes Leben zu bieten, wechselt er als Metzger nach Basel zum ACV (Coop), wo er 23 Jahre im Schlachthof und in der Küche arbeitet. Bestrebt, Gutes zu tun, engagiert sich Utiger in der Gemeindepolitik. Nach acht Jahren in der Gemeindekommission wird er 1968 in den Gemeinderat gewählt. 24 Jahre im Amt, am Schluss als Vizepräsident, kümmert er sich mit viel Engagement um die Belange der Gemeinde Sissach. «Ich bin kein ‹Polteri› gewesen. Für mich sind immer die sachliche Diskussion und die Suche nach Lösungen im Vordergrund gestanden», sagt er.
Dann wäre da noch die Liebe zu seinem Mofa. «Nein», sagt Max Utiger. Mit dem «Töffli» sei er nicht mehr unterwegs. Aber noch immer unternimmt er, wenn immer möglich, mit dem Rollator kleine Touren im Dorf. «Es ist schön zu beobachten, wie sich Sissach positiv entwickelt hat», sagt er. Überhaupt kommt er beim Thema Sissach ins Schwärmen. Er vermisse seine Heimat nicht. «Sissach ist zu meiner neuen Heimat geworden. Der Ort, wo ich mich wohlfühle. Der Ort, wo die Menschen wohnen, die viel für mich getan haben.» Bei seinen zahlreichen Ausflügen und Reisen sei er immer wieder gerne nach Hause gekommen.
Im Jahr 1971 wird Max Utiger zum Friedhofsgärtner gewählt. «Es war eine schwere Arbeit. Anfänglich mussten die Gräber noch von Hand ausgehoben werden», erinnert er sich. Neben der Arbeit blieb aber auch immer noch Zeit, um sich zusammen mit seiner Ehefrau gemeinnützigen Aufgaben zu widmen. Legendär waren unter anderem die Suppen, die unter der kundigen, leicht militärisch orientierten Führung von Margrit Utiger jeweils am Suppentag den Suppenkessel verliessen.
Im Heim gut aufgehoben
Im Jahr 2010 stirbt Utigers Ehefrau Margrit. Das sei ein schwerer Schlag gewesen, erinnert sich der Jubilar. Plötzlich, ohne seine ihn umsorgende Ehefrau, alleine in der Wohnung zu sein, sei für ihn sehr schwer gewesen. «Die Tage waren manchmal lang und schwer. Ich habe mich aber immer wieder an die positiven Ereignisse in meinem langen Leben erinnert. Das hat geholfen, die Einsamkeit für einen Moment zu verscheuchen.»
Nach einer komplizierten Operation und auf sanften Druck seiner Tochter und Nichte Yvonne, entschliesst sich Utiger vor sechs Jahren, ins Zentrum für Pflege und Betreuung Mülimatt in Sissach zu zügeln. «Ein Entscheid, den ich noch keine Minute bereut habe», sagt er. Hier werde man umsorgt. Sei anfänglich um sechs Uhr Tagwache gewesen, werde er jetzt erst so gegen acht Uhr aus dem Land der Träume geholt. Ein besonderes Lob gilt dem Essen. «Noch», und jetzt lacht Utiger wieder verschmitzt, «kann ich alles beissen. Ich bin ja schliesslich erst 100-jährig.» Auch einem Glas Wein sei er nicht abgeneigt oder wie es Utiger sagt: «Lieber Roter, als kein Weisser.»
Auf die Frage, was man tun müsse, um so alt zu werden, antwortet Max Utiger mit Bedacht. «Ein Patentrezept gibt es wohl keines. In erster Linie braucht es viel Glück, dass man von schlimmeren Krankheiten verschont bleibt», sagt er. Mit Blick auf die Neuenburger-Pendule, die er als Dank für seine 24-jährige Tätigkeit als Sissacher Gemeinderat bekommen hat, meint er: «Die Uhr des Lebens gibt den Takt vor. Daran ist nicht zu rütteln.» Wichtig sei, sich an die erfreulichen Dinge im Leben zu erinnern. Mit Zufriedenheit zurückzuschauen und dankbar zu sein für alles Schöne, das man erleben durfte. Jetzt freut er sich auf seinen 100. Geburtstag, den er mit seinen Liebsten bei einem Mittagessen und einem Glas Wein verbringen wird. «Als Urgrossvater hat man ja einiges zu erzählen», sagt er und lacht.