Steh-Apéros und überforderte Ohren
23.05.2025 PersönlichKürzlich hat mich einer unserer Söhne darauf hingewiesen, ich solle doch vor meinem 65. Geburtstag bald beim Hörtechniker mein Gehör überprüfen lassen. Vielleicht sei es ja bereits schwach und dann würde die IV mir ein Gerät hinter dem Ohr mitfinanzieren. ...
Kürzlich hat mich einer unserer Söhne darauf hingewiesen, ich solle doch vor meinem 65. Geburtstag bald beim Hörtechniker mein Gehör überprüfen lassen. Vielleicht sei es ja bereits schwach und dann würde die IV mir ein Gerät hinter dem Ohr mitfinanzieren. Dieser Zuschuss falle nach der Pensionierung weg. Die Bemerkung hat mich nachdenklich gemacht. Nicht wegen des Batzens.
Ich höre wirklich nicht besonders gut. Zwar habe ich das Militär waffenlos absolviert, am Schiesslärm kann es also nicht liegen. Auch war ich in jungen Jahren kein Discogänger, habe jedoch selbst viel (und manchmal laut) Musik gemacht.
Schon früher haben unsere Söhne mich innerfamiliär getestet, wenn ich mal wieder nicht zugehört oder mit einem «Hääh?» auf eine Frage reagiert hatte. Dann machten sie mit mir den Schoggi-Test. Sie flüsterten: «Papi, möchtsch e Stügg Schoggi?» – und das habe ich stets verstanden. Darüber lachen wir noch heute. Schoggi kann ich nicht widerstehen.
Ich höre wirklich nicht besonders gut. Besonders dann, wenn ich bei einem Apéro in einer grösseren Menschenmenge mit ein paar Leuten zusammenstehe und plaudere. Das heisst, sie plaudern und ich stehe dabei.
Wissen Sie, wie das ist, wenn man über 1,90 Meter gross ist und die anderen in der Runde sind nur knapp 1,70 Meter gross und schwatzen miteinander beinahe 30 Zentimeter weiter unten? In meiner luftigen Höhe sammelt sich der Lärm des ganzen Saals – und ich kann oft nicht folgen, worüber meine Apéro-Bekannten da unten sprechen. Ich lächle trotzdem brav und (un-)wissend. Besonders elend ist das in akustisch schwierigen Räumen wie dem Sissacher Jakobshof – und dort muss ich von Berufs wegen regelmässig sein. Deshalb: Wenn Sie mir einen Bären aufbinden oder etwas verkaufen wollen, dann am besten bei einer solchen Gelegenheit.
Nun werden Sie denken: «Och, der Arme! Seine Grösse hat bestimmt auch Vorteile. In einer ‹Druggete› in der Kirche, an der ‹Mega›, in der Schalterhalle SBB oder an einer FCB-Meisterfeier – da hat er stets den Überblick, kennt keine Platzangst oder Atemnot.» Stimmt genau. Auch fürs Abstauben in hohen Ecken und fürs Reinigen der oberen «Chuchichäschtli» bin ich ideal gebaut.
Ich habe einen gleichaltrigen lieben Freund im Rollstuhl, der kennt mein akustisches Problem bei Steh-Apéros ebenfalls, aber von unten. Er unterhielt sich bis vor Kurzem – bildlich und wörtlich – jeweils mit vielen Hinterteilen auf Augenhöhe. Gern hätte ich mit ihm eine Selbsthilfegruppe gegründet. Doch er hat jetzt neu einen höhenverstellbaren Rollstuhl. Damit kann er sich in die Höhe «beamen» sowie endlich uneingeschränkt und barrierefrei zuhören, verstehen und mitreden. Das gönne ich ihm von Herzen.
Für mich gibt es keine Aussicht auf solch technische Hilfe. Ich tröste mich damit, dass ich mit zunehmendem Alter eher schrumpfe. Und dass viele meiner Bekannten zu mir hochblicken.
Matthias Plattner wurde 1962 geboren und ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Wintersingen.