«Soziale Klassen sind nicht passé»
12.09.2025 SissachDas ist Sissach (36. Teil) | Soziologe Ueli Mäder blickt auf das Dorf seiner Jugend
Ueli Mäder, der emeritierte Soziologie-Professor aus Rheinfelden, ist mit Sissach durch seine Freundschaften und seine monatliche Diskussionsreihe im «Cheesmeyer» noch ...
Das ist Sissach (36. Teil) | Soziologe Ueli Mäder blickt auf das Dorf seiner Jugend
Ueli Mäder, der emeritierte Soziologie-Professor aus Rheinfelden, ist mit Sissach durch seine Freundschaften und seine monatliche Diskussionsreihe im «Cheesmeyer» noch immer eng verbunden. Im Gespräch blickt er aus dieser Halbdistanz auf das Dorf seiner Jugend.
Robert Bösiger, Jürg Gohl
Herr Mäder, wir feiern 800 Jahre Sissach. Im Jubel wünschen wir uns noch eine kritische Aussensicht. Dafür sind Sie als abtrünniger Sissacher der Richtige.
Ueli Mäder: Abtrünnig? Das hält sich in Grenzen.
Stimmt. Sie sind zurückgekommen und führen jeden Monat im «Cheesmeyer» eine Gesprächsreihe durch. Sind Sie auch gerne zu diesem Gespräch erschienen?
Ich bin viel in Sissach und fühle mich Sissach verbunden.
Warum sind Sie eigentlich nach Rheinfelden gezügelt?
Schon während der Ausbildung bin ich nach Basel gezogen. Später gingen wir nach Rheinfelden, weil Esther (Ueli Mäders Ehefrau Esther Schwald, Anm. d. Red.) ihre Atempraxis dorthin verlagert hat. In Sissach interessiert uns die Kordia-Wohngenossenschaft. Aber das Projekt lässt auf sich warten. Esther habe ich übrigens 1956 im Kindergarten in Sissach kennengelernt.
Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten nehmen Sie zwischen und Sissach wahr?
Beide Orte ähneln sich. Beide sind recht offen und stabil, politisch, wirtschaftlich und sozial. Und kulturell sind sie erfreulich vielfältig. Beide haben auch eine regionale Zentrumsfunktion. Und einen inneren Ortskern, der das lokale Geschehen prägt.
Wie erleben Sie die Veränderungen von Sissach seit Ihrer Jugend?
Wir sind 1956, also vor bald 70 Jahren, als achtköpfige Familie von Frauenfeld hierher gezogen, aus einer kleinen Wohnung in ein Haus und in ein Quartier, in dem wir auf der Strasse Fuss- und Völkerball spielen konnten. Mit Freunden bin ich dann auch mit selbst gebastelten Pfeilbogen und Steinschleudern durch den Diegterbach gewatet und durch die Wälder gestreift. Wir haben Freiheiten genossen, die heutigen Jugendlichen teils fehlen. Es hat allerdings auch autoritäre Lehrer und Nachbarn gegeben, die uns streng kontrolliert haben, dafür aber einen gutmütigen Polizisten. Und den Bahnhofsvorstand haben wir respektiert und mit Namen gegrüsst. Das ist heute anonymer.
Heute leben viele Reiche in Sissach. Und wer eine Wohnung mieten will, benötigt dazu schon viel Geld. Das Bauland ist rar, und die Quadratmeterpreise gehen bis zu 1800 Franken. Wie beurteilt der Soziologe Ueli Mäder diese Entwicklung?
Ja, gerade die Jubiläumsserie der «Volksstimme» hat in mir viele Erinnerungen an früher geweckt mit dem schönen Blick hinaus ins Grüne. Das hat sich natürlich verändert. Viel Land ist mit normierten Bauten zersiedelt und mit Strassen und Parkplätzen zubetoniert. Das ist schade. Der private Verkehr ist ein Problem.
Und der Reichtum?
Was die Reichen betrifft, sind die Zahlen erst bis 2021 provisorisch aufbereitet (Ueli Mäder nimmt ein paar Statistiken aus der Mappe.) Daraus lässt sich für Sissach folgendes soziale Gefüge herauslesen. Von 4200 privaten Steuerpflichtigen lagen anno 2020 in Sissach die Einkommen nach den üblichen Abzügen bei 2330 Haushalten unter 60 000 Franken, bei 1313 zwischen 60 000 und 120 000 Franken, bei 344 zwischen 120 000 und 180 000 Franken und bei 193 darüber.
Was heisst das für Sie?
Das bedeutet für mich, dass die Hälfte der privaten Steuerpflichtigen über relativ niedrige Einkommen verfügt. Und das Bild verdeutlicht sich, wenn wir die Vermögen anschauen. Nach der kantonalen Statistik von 2021 haben in Sissach von 4257 Haushalten 2870 kein steuerbares Nettovermögen. Ihnen fehlen finanzielle Reserven. 621 weitere haben ein Vermögen unter 150 000 Franken, 222 zwischen 150 000 und 300 000 Franken, 361 zwischen 300 000 Franken und einer Million, 104 zwischen 1 bis 2 Millionen Franken, 53 zwischen 2 bis 5 Millionen Franken und 21 über mehr als fünf Millionen Franken.
Wollen Sie damit aussagen, dass Sissach eine Zweiklassenist?
Grosso modo schon, einfach etwas differenzierter. Soziale Klassen sind jedenfalls auch in Sissach keineswegs passé. Weit über die Hälfte der privaten Steuerpflichtigen haben kaum finanzielle Reserven. Ihnen hilft es, wenn sie noch in alten, günstigeren Wohnungen leben. Das verändert sich jedoch. Verglichen mit 2013 siedeln sich vermehrt Steuerpflichtige in den höheren Vermögensbereichen an. Sie sind in der Lage, die teureren Wohnungen zu bezahlen. Und ihre Kaufkraft hebt das gesamte Preisniveau an, das dünnere Portemonnaies arg strapaziert. Das gefährdet den Zusammenhalt.
Wie stufen Sie das kulturelle Leben, die Vereinstätigkeiten und die Freiwilligenarbeit in Sissach ein? Welche Noten verteilen Sie?
Gute! Ich habe mich im Vorsommer zum Beispiel sehr über den ‹Jazz uf em Strich› gefreut. Über die musikalische Qualität, die friedliche Stimmung und das grosse Engagement. So fördern Kultur und freiwillige Arbeit das soziale Miteinander. Das ist von hohem Wert.
Das lässt sich nicht einfach von oben befehlen.
Ja, wichtig ist eine soziale Infrastruktur, die Leute unterstützt, sich selber einzusetzen. Zuviel Hilfe kann bevormunden und lähmen, zu wenig überfordern. Das Gemeinwesen darf keine Bürden einfach auf Freiwillige abwälzen. Und es gibt erwerbstätige Arme, die keine freiwillige Arbeit leisten können, weil sie zusätzlich putzen gehen müssen.
In Sissach sind es oft die Gleichen, die sich engagieren. Darunter befinden sich viele Alteingesessene. Ist das zufällig?
Nein, jene, die sich kümmern, haben oft Eltern, die ihnen dies schon vorgelebt haben. Sie haben selbst viel Grosszügigkeit erfahren, die sie nun weitergeben. Andern helfen zu können, ist ein Privileg. Wer Gutes tut, soll sich darüber freuen, ohne sich zu überhöhen.
Einspruch! Der Gemeinderat macht oft die Erfahrung, dass sich Leute zieren und Vereine sich zurückhalten, wenn sie um einen Dienst für das Gemeinwesen gefragt werden. Ein Beispiel dafür ist, dass es immer wieder schwierig ist, Leute zu finden, die ein Zelt für die 1. August-Feier aufstellen. Das läuft in kleinen Dörfern besser.
Diesen Eindruck teilen offenbar viele. Vielleicht trifft er zu. Das quantitative Ausmass ist allerdings schwierig präzise zu erfassen. In der Schweiz werden jedenfalls 8 Milliarden Stunden bezahlte Arbeit geleistet und weit über neun Milliarden unbezahlte. Ein wichtiger Teil davon ist die freiwillige Arbeit. Ohne sie könnte unsere Gesellschaft nicht bestehen.
Vom «Goldhügel» kommen nur wenige Leute zur Gemeindeversammlung oder zu dörflichen Veranstaltungen.
Es befremdet, wenn Leute vornehmlich von den Vorteilen einer Gemeinde profitieren wollen. Ich finde die Gemeindeversammlungen wichtig. Da hören alle das Gleiche. Und sehen sich in die Augen. In Rheinfelden haben wir einmal an einer Gemeindeversammlung ganz lange über das Gestalten des Friedhofs diskutiert. Das hat mich berührt. Da ist sogar unser Umgang mit unserer Endlichkeit zu Sprache gekommen. Meine These ist, dass die freiwillige Arbeit und die Vereine wieder mehr Bedeutung erlangen. Die frühere dörfliche Geborgenheit ist ziemlich autoritär strukturiert gewesen. Da haben dann gerade Jüngere mehr Freiheit in der urbanen Anonymität gesucht. Inzwischen ist es einigen dabei allzu kühl geworden. Sie suchen wieder mehr soziale Verbindlichkeit. Aber dies aus freien Stücken und nicht verordnet.
Wie erreichen wir die Jugendlichen am besten?
Wichtig sind Foren des Austauschs, um überhaupt zu erfahren, wo der Schuh drückt und was für Anliegen vorhanden sind. So entsteht mehr Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehören auch Gespräche über Sinnfragen. Viele Jugendliche fragen sich, was das soll, wenn alles immer noch schneller drehen und materiell wachsen muss. Sie checken: weniger wäre mehr. In ökologischen Bereichen ist jedenfalls eine besondere Sensibilität vorhanden. Daran lässt sich anknüpfen. Und dabei hilft, wenn Gemeinden gut verständlich und sinnlich wahrnehmbar darüber informieren, was alles nötig ist, damit das soziale Miteinander funktionieren kann.
Ein gutes Beispiel ist doch die 800-Jahre-Feier, auf ein ganzes Jahr verteilt. Da kommen Tradition und Moderne zusammen. Das stärkt die Gemeinde und Identität.
Ja, ein historisches Bewusstsein ist wichtig, anschaulich vermittelt. Und Identität meint nicht Homogenität. Identität fordert uns heute eher dazu heraus, Vielfalt zu pflegen und Widersprüche konstruktiv anzugehen. Statt zu polarisieren, bringt es mehr, selbstkritisch miteinander zu reflektieren. Auch darüber, wie wir eine lebendige Zukunft gestalten wollen. Hoffentlich einfacher und bescheidener.
Zur Person
vs. Ueli Mäder ist 1951 in Beinwil am See geboren und in Sissach aufgewachsen. Er hat hier lange Handball gespielt (67-mal im legendären Nati-B-Team), ist seit 1972 mit seiner Sissacher Jugendfreundin Esther Schwald verheiratet und Vater von drei längst erwachsenen Kindern. Beruflich hat Mäder als Professor für Soziologie an den Universitäten Fribourg und Basel gearbeitet.
Nächste Jubiläumsanlässe
12. bis 14. September: «Griederland lebt». Griederland bei der Exotic. Freitag ab 18 Uhr, Samstag und Sonntag jeweils ab 10.30 Uhr mit Verpflegung, Exkursionen, Kursen, Vorträgen, Chor-Konzert et cetera.
13. September: «Sissach Matsuri». 11 bis 18.30 Uhr. Primarschule Dorf und reformierte Kirche Sissach. Japanisches Festival mit Taiko, Shakuhachi, Ikebana und vielen japanischen Köstlichkeiten.
20. bis 26. September: Erlebniswoche des Frauenvereins. Mehr dazu auf www.frauenverein-sissach.ch.
ww.sissach2025.ch