«So werden wir zum möglichen Angriffsziel»
19.11.2024 SchweizDie Infanterie-Vereinigung Baselland hat den NZZ-Journalisten Georg Häsler nach Liestal eingeladen. Häsler warnte vor einer möglichen Verschlechterung der Sicherheitslage in Europa. Und er appellierte an die Politik, die Schweizer Armee besser auszurüsten.
...Die Infanterie-Vereinigung Baselland hat den NZZ-Journalisten Georg Häsler nach Liestal eingeladen. Häsler warnte vor einer möglichen Verschlechterung der Sicherheitslage in Europa. Und er appellierte an die Politik, die Schweizer Armee besser auszurüsten.
Janis Erne
Nordkoreanische Soldaten in Russland, Krieg im Nahen Osten, chinesische Drohungen gegen Taiwan – die globale Sicherheitslage ist volatil und ändert sich fast wöchentlich. Einer, der zumindest analytisch etwas Ordnung in dieses Geflecht bringt, ist Georg Häsler. Er ist Miliz-Oberst der Schweizer Armee und Journalist bei der NZZ. Häsler gilt als einer der profundesten Kenner der Schweizer Sicherheitspolitik.
Am vergangenen Donnerstagabend war der Berner Oberländer, der heute in der Bundeshauptstadt wohnt, zu Gast in Liestal. Eingeladen hatte ihn die Infanterie-Vereinigung Baselland. In seinem Vortrag zeigte Häsler auf, wie sich die Weltlage präsentiert und wie die Schweiz darauf reagieren sollte.
Im Zentrum stand die Finanzierung der Schweizer Armee, die das Bundesparlament in der anstehenden Wintersession beschäftigen wird. Bundesrat und Parlament sind sich einig, dass die Armee mehr Geld braucht. Ihr Budget soll auf 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöht werden, also voraussichtlich auf rund 10 Milliarden Franken jährlich. Umstritten ist, bis wann das 1-Prozent-Ziel erreicht werden soll. Während der Bundesrat für 2035 plädiert, liebäugelt das Parlament mit 2030.
Unabhängig vom zeitlichen Rahmen stellte Georg Häsler klar: «Wir reden nicht über eine Aufrüstung, sondern über die vollständige Ausrüstung der bestehenden Armee – also das absolute Minimum.» Das zusätzliche Geld soll vor allem in die bodengestützte Luftverteidigung, die Artillerie und die Digitalisierung fliessen. «Wir müssen unsere Lücken schliessen», plädierte Häsler.
Gegen einen Angriff mit weitreichenden Flugkörpern wie Marschflugkörpern oder ballistischen Raketen könnte sich die Schweiz heute nicht wehren, sagte der Sicherheitsexperte. Die Bevölkerung als mögliches Ziel eines Aggressors wie Russland nannte Häsler nicht, wohl aber die kritische Infrastruktur. Die Schweiz verfüge über Anlagen, die im Falle eines Krieges zwischen Russland und der Nato (oder anderen Parteien) attraktive Ziele darstellten.
Nicht weit entfernt
So zum Beispiel der sogenannte Stern von Laufenburg. Er ist der wichtigste von mehr als 40 Anschlusspunkten der Schweiz an das europäische Stromnetz. Rund 20 Kilometer Luftlinie von Sissach entfernt verbindet er die Stromnetze Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz. Als weiteres mögliches Ziel russischer Raketen, die von Flugzeugen über der Nordsee oder dem Mittelmeer abgefeuert werden könnten, nannte Häsler die beschauliche Gemeinde Diessenhofen im Kanton Thurgau.
Dort befindet sich eines von weltweit nur drei Rechenzentren des Finanzdienstleisters Swift. Würde das Rechenzentrum in der Schweiz beschädigt oder zerstört, käme ein Grossteil des internationalen Zahlungsverkehrs zum Erliegen. Chaos und Unsicherheit wären die Folge. Vor diesem Hintergrund sei es fast irrwitzig, dass derzeit die Thurgauer Kantonspolizei die Hauptverantwortung für den Schutz der Anlage trage, sagte Häsler.
Der Journalist stellte auch grundsätzliche Überlegungen an. Georg Häsler: «Wir müssen in der Schweiz einen Konsens finden: Was ist die Bedrohung? Was schützen wir? Und was ist uns das wert?» Diese Fragen würden derzeit zu wenig breit diskutiert. In der politisch-medialen Blase entstehe kein Wille, wie sich die Schweiz in Zeiten hybrider und konventioneller Kriege verteidigen soll. «So werden wir zum möglichen Angriffsziel», sagte Häsler.
«Es braucht einen Kompromiss»
Er wünscht sich eine ehrliche Diskussion darüber, wie stark die Schweiz sich selbst verteidigen und wie stark sie mit Bündnissen wie der Nato zusammenarbeiten soll. Dabei sieht Häsler, der sich selbst als Liberalen bezeichnet, die politischen Pragmatiker in der Pflicht: «Es braucht einen Kompromiss zwischen Selbstverteidigung und internationaler Zusammenarbeit.» Extrempositionen – ob Nato-Beitritt oder umfassende bewaffnete Neutralität – hält er für unglaubwürdig, weil sie meist die wahren Kosten verschwiegen.
Häsler forderte die Politik nachdrücklich zum Handeln auf. Es sei den jungen Soldaten gegenüber nicht fair, die Streitkräfte nicht angemessen auszustatten. Andere Länder in Europa, allen voran Polen, die skandinavischen und baltischen Staaten, seien hier weiter. Je näher die Länder an Russland liegen, desto vorsichtiger seien sie offenbar.
Für die nahe Zukunft stellte Häsler drei Szenarien vor. Das mittlere Szenario wäre ein Waffenstillstand in der Ukraine ohne Sicherheitsgarantie für das Land durch die Nato oder die EU. Die Folge wäre eine anhaltende Konfrontation mit Eskalationspotenzial. Besser wäre es, wenn China mässigend auf seinen «Juniorpartner» Russland einwirken würde. Für diesen Fall prognostizierte Häsler eine Stabilisierung der sicherheitspolitischen Lage in Europa.
Das schlimmste Szenario wäre eine neutrale «Rumpf-Ukraine», in welcher der hybride Krieg weitergeht. Sollten sich die USA gleichzeitig noch stärker China zuwenden, das zwischen 2027 und 2030 versuchen könnte, Taiwan zu übernehmen, könnte dies einem imperialen Russland die Möglichkeit geben, weiter nach Europa vorzudringen.
Viel hänge davon ab, ob die Europäer zusammenarbeiten oder nicht, so Häsler, der von einer noch nie dagewesenen Verflechtung der Konflikte auf der Welt sprach.