Seit 180 Jahren ein Medienstandort
22.05.2025 SissachWo die Unterschicht eine Stimme hatte
Sissach ist ein wichtiger Medienstandort im Baselbiet. Hier erschien – auch aufgrund der Posamenter – einst ein Blatt der Arbeiterbewegung. Und seit 1882 gibt es die «Volksstimme», die sich als einzige Lokalzeitung am Platz ...
Wo die Unterschicht eine Stimme hatte
Sissach ist ein wichtiger Medienstandort im Baselbiet. Hier erschien – auch aufgrund der Posamenter – einst ein Blatt der Arbeiterbewegung. Und seit 1882 gibt es die «Volksstimme», die sich als einzige Lokalzeitung am Platz durchgesetzt hat.
Roger Blum
Normalerweise befinden sich Zeitungsverlage, Radio- und Fernsehsender sowie Hauptquartiere von Online-Medien in den Zentren. In der Nordwestschweiz ist die Stadt Basel der wichtigste Medienstandort. Ein Standort zweiter Ordnung ist Liestal, der Hauptort des Kantons Baselland. Hier waren über die Jahre etwa 30 Medien beheimatet.
Sissach gehört in Baselland zusammen mit Arlesheim, Birsfelden und Laufen zu den Standorten dritter Ordnung mit bis zu etwa einem Dutzend Medien im Laufe der Zeit. In sechs Gemeinden (Standorte vierter Ordnung) erschien eine kleinere Anzahl Medien, in weiteren sechs Gemeinden (Standorte fünfter Ordnung) nur je ein einziges Medium.
Sissach zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es schon lange Medienstandort ist und dass hier die Unterschicht ihre Stimme erhielt. Wir werfen daher den Blick hauptsächlich auf zwei Medien: auf den «Baselbieter» und auf den «Arbeiter».
Hass auf die Elite
Gründer, Drucker und Redaktor des «Baselbieters» war vor 180 Jahren der damals 32-jährige Heinrich Völlmin, ein Geschäftsmann und Wirt, der sich auch Advokat nannte. Er war 1838 als Bezirksgerichtsschreiber in Waldenburg wegen Betrugsversuch und Amtsmissbrauch zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden. Er hatte deshalb einen ziemlichen Hass auf den Staat und auf die politische Elite und nahm an allen Bewegungen teil, die das System umstürzen wollten. Wegen seiner Beteiligung am «Putsch» von 1840 kam er erneut ins Zuchthaus, was seine Wut auf das Establishment nur noch steigerte. Seine Zeitung, die derb-volkstümlich argumentierte, verstand er als Kampfblatt der Benachteiligten und Entrechteten.
Immer wieder rief Völlmin nach Volksversammlungen und Vetobewegungen – folgerichtig stellte er den «Baselbieter» in den 1860er-Jahren in den Dienst der demokratischen Bewegung von Christoph Rolle. In dieser Zeit sass Redaktor Völlmin auch im Verfassungsrat und im Landrat. Ende der 1860er-Jahre unterstützte er mit seiner Zeitung die Arbeiterbewegung. 1870 gab er Druckerei und Verlag in andere Hände, 1879 starb er.
Starke publizistische Akzente
Der «Baselbieter» aber lebte weiter, 1879 bis 1930 im Besitz der Familie Loosli: Eduard Loosli war Verleger und Redaktor bis 1918; 1919 übernahm Otto Loosli. Doch im Jahr 1930 konnte der «Baselbieter» wirtschaftlich nicht mehr durchhalten, schlüpfte daher unter das Dach des «Landschäftlers» in Liestal und existierte in der Folge bis 1964 als dessen Kopfblatt. Mit dem «Baselbieter» hat Sissach jedenfalls starke publizistische Akzente gesetzt.
Von 1868 bis 1872 gab der von Frenkendorf in den Oberbaselbieter Bezirkshauptort gezogene Buchdrucker Johann Rudolf Förster die «Sissacher Zeitung» heraus. Der Kanzlist und Journalist, der auch auf der Landeskanzlei gearbeitet hatte, hatte schon Ende der 1830er-Jahre eine Zeitung herausgegeben, die «Basellandschaftliche Zeitung», die allerdings nur drei Jahre durchhielt und nicht zu verwechseln ist mit der 1854 gegründeten, bis heute existierenden «bz», die 160 Jahre lang das Blatt der Verlegerfamilie Lüdin war.
Posamenter und Fabrikarbeiter
Förster erklärte sich bereit, neben der «Sissacher Zeitung» auch die Zeitung «Der Arbeiter» zu drucken, die das Organ der «Internationalen Arbeiter-Association» von Basel-Stadt und Baselland war, dessen Redaktor Rudolf Starke wurde. Auf den ersten Blick scheint ein solches Blatt nicht zu Sissach zu passen. Damals begann zwar die Arbeiterbewegung Fuss zu fassen, es gab erste Streiks, aber sie war vor allem in der Stadt Basel und im unteren Baselbiet präsent, nicht in Sissach. Sektionen der «Internationalen Arbeiter-Association» existierten neben Basel in Liestal, Binningen und Birsfelden.
Doch zur Arbeiterschaft gehörten damals auch die Posamenter, und für sie war Sissach gewissermassen die «Metropole». Im Oktober 1867 versammelten sich in Sissach Arbeiter und Handwerker, um über ihre Lebensverhältnisse zu diskutieren. Sie bildeten ein provisorisches Komitee und gründeten Ende November den «Arbeiterverein des Kantons Basel (Stadt und Landschaft)». Man versuchte, Heimarbeiter und Fabrikarbeiter unter dem gleichen Dach zu vereinen. Bereits gab es in Binningen und Sissach Konsumvereine. Erneut war Sissach Druckort für ein Organ der Unterprivilegierten geworden.
Doch die Zeitung «Der Arbeiter» hielt 1868 / 69 nur fünf Monate durch. Die Nachfrage war offenbar zu gering. Förster gab auf. «Der Arbeiter» ging im «Demokrat aus Baselland» von Christoph Rolle auf, der in Lausen erschien, während die «Sissacher Zeitung» mit dem «Baselbieter» fusionierte. Die sozialistischen Ideen lebten weiter, wenn auch von einem anderen Standort aus.
Zeitung bleibt, Radio geht
Die nächste Mediengründung in Sissach war indes nicht kurzlebig: Im Jahr 1882 begann die «Volksstimme von Baselland» zu erscheinen. Hinter der Gründung stand ein Komitee und im Jahr 1885 übernahm die Familie Schaub Verlag und Druck. Das zuerst zweimal, dann dreimal wöchentlich erscheinende Blatt ist in den 142 Jahren zum zuverlässigen publizistischen Gesicht des Oberbaselbiets geworden.
Während sich die früheren Blätter bestimmten politischen und gesellschaftlichen Ideen verpflichtet fühlten und ausgesprochene Kampforgane waren, steht die «Volksstimme» für das journalistische Konzept des Regional- und Lokaljournalismus.
Genau 101 Jahre nach der «Volksstimme» begann aus Sissach auch ein Radio zu senden: «Radio Raurach» nahm den Betrieb auf. Es gehörte zu den ersten konzessionierten Privatradios der Schweiz. Zwölf Jahre blieb es in Sissach, dann wanderte es weiter, zuerst nach Liestal, dann nach Basel. Und aus «Radio Raurach» wurde zunächst «Radio Edelweiss», dann «Radio Basel 1», dann «Radio Basel» und letztlich «Radio Energy Basel». 2002 stieg das Unternehmen der «Basler Zeitung» bei «Radio Basel 1» ein, «Radio Energy Basel» hingegen gehört einem internationalen Medienkonzern, der in Frankreich domiziliert ist.
Im Jahr 1995 war somit auch die Sissacher Medienvielfalt zu Ende. Neben der «Volksstimme» erscheinen im Bezirkshauptort – ebenfalls im Verlagshaus Schaub Medien – nur noch die «Baselbieter Heimatblätter».
Roger Blum (80) ist Journalist und emeritierter Professor für Kommunikationsund Medienwissenschaft an der Universität Bern. Er stammt aus dem Baselbiet.
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Seit 17. Januar: Sissach gestern und heute. Alte Gemälde und Zeichnungen hängen im Gemeindehaus aktuellen Fotografien des Theaterfotografen Ernst Rudin (70) gegenüber. Die Ausstellung kann zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus besichtigt werden.
Seit 3. Mai: Der Wald-Erlebnisweg mit seinen Stationen bildet zusammen mit dem erneuerten Waldspielplatz Tännligarten Ausflugsziel für die ganze Familie.
Freitag, 23. Mai: «Die Seidenstrassen und ihre fehlenden Teile im Humboldt Forum»: Vortrag von Dr. Hinchi Kong, Leiter des Chinahouse. Der Anlass ist Teil des Jahresthemas «Die Sissacherin Ursula Graf und ihre Seidenstrassen.» Chinahouse, Hauptstrasse 120. 18.30 bis 21.00 Uhr. Mit Nachtessen. Eintritt 40 Franken.
Donnerstag, 29. Mai: Europäisches Jugendchorfestival in der reformierten Kirche.
Sonntag, 1. Juni: Sonderausstellung «100 Jahre Heimatmuseum Sissach»: «Chumm cho luege». «Kässeli-Beat» Walmer zeigt seine Sammlung an Sparkassen. Dauerausstellung «Baselbieter Trachten», Waffensammlung, Posamenterstuhl in Betrieb. Geöffnet 11 bis 16 Uhr. Webvorführungen um 13 und 15 Uhr.