Ohne Verklärung, ohne Fanfare
12.08.2025 SissachHeiner Oberers Biografie von Landjäger Matthias Bitterlin
Die Form des historischen Romans erlaubt es dem Autor Heiner Oberer, das Leben des Landjägers Matthias Bitterlin minutiös nachzuzeichnen, Ereignisse aus jener Zeit einzubeziehen und das Buch mit viel Sissacher ...
Heiner Oberers Biografie von Landjäger Matthias Bitterlin
Die Form des historischen Romans erlaubt es dem Autor Heiner Oberer, das Leben des Landjägers Matthias Bitterlin minutiös nachzuzeichnen, Ereignisse aus jener Zeit einzubeziehen und das Buch mit viel Sissacher Lokalkolorit auszustatten.
Jürg Gohl
Man schreibt das Jahr 1895. Der Sissacher Landjäger Matthias Bitterlin nimmt seinen Tag in Angriff. So beginnt das neue Buch von Autor Heiner Oberer, das nach dem Vorbild von «Ulysses», des Monumentalwerks von James Joyce, ebenfalls an einem einzigen Tag spielt. Im Vergleich zu «Ulysses» liegt der herausgegriffene Tag des Landjägers neun Jahre früher.
Gerade rechtzeitig vor den Sommerferien hat Heiner Oberer sein jüngstes von inzwischen fünf Büchern vorgestellt (siehe «Volksstimme» vom 27. Juni). Auf diese Hauptfigur ist der langjährige «Volksstimme»-Kolumnist bei den Recherchen zu seinem vorherigen Buch gestossen, in dem er sich auf die Spurensuche seiner Ururgrossmutter Verena Oberer-Waibel begeben hat. Sie wanderte vor bald 200 Jahren, ihre Kinder bis auf das jüngste zurücklassend, aus sozialer Not nach Amerika aus. Auch Matthias Bitterlin befasste sich mit Ahnenforschung.
Der Oberbaselbieter «Ulysses» war am Tag, den Oberer auf 100 Seiten beschreibt, 55 Jahre alt. Mattias Bitterlin, im Sommer 1849 in Läufelfingen als uneheliches Kind zur Welt gekommen, wächst bei einer Pflegefamilie in Ormalingen auf und lebt zeitweise sogar in einem Kinderheim in Hamburg. Der Autor beschreibt die Jugendzeit im Vorwort als «entbehrungsreich». Bitterlin erlernte den Beruf eines Bandwebers, wechselte aber jung ins Basler Polizeicorps und wurde schliesslich 1876 in Sissach Dorfpolizist beziehungsweise, nach damaligem Sprachgebrauch, Landjäger.
Mit seiner Familie lebte er gleich neben der Kirche und war Vater einer Tochter und von acht Söhnen, von denen zwei früh starben. Hermann Traugott, der zweitälteste Sohn, heiratete keine vier Monate nach der Geburt des letzten, Matthias. Das ist der Biografie des Landjägers im Anhang des Buchs zu entnehmen. Dieser Teil fällt sehr umfangreich aus, unter anderem, weil der Autor die Quellen, die ihm bei der Rekonstruktion des Landjäger-Lebens halfen, aufführt und abbildet.
Dazu zählen unter anderen Gemeinderatsprotokolle. Aus diesen geht auch hervor, dass seine Vorgesetzten ihn wiederholt zurechtwiesen, weil er wie viele seiner Zeitgenossen den Alkoholkonsum offenbar nicht im Griff hatte. Jedenfalls begleiten wir ihn beim Lesen in manches Gasthaus, von denen damals nicht weniger als 28 zur Verfügung standen. Oberer bezeichnet sie auch als «Pinte», weil er als Mundart-Experte häufig und gerne alte und mundartliche Wörter und Redewendungen verwendet, die er im Anhang erklärt. Rund 150 Ausdrücke kommen da zusammen.
Der Alltag vor 130 Jahren
Als weitere Quelle, um Bitterlins Leben nachzuzeichnen, dient dem Autor auch der ausführliche Nachruf, der 1916 kurz nach seinem Tod in der «Volksstimme» erschienen ist. Der Landjäger sei ein Mann gewesen, «der es verdient hat, dass seiner in diesem Blatte etwas einlässlicher gedacht werde». Hervorgehoben werden auch seine Verdienste als Verfasser einer Sissacher Heimatkunde und eines Bürger-Familienbuchs sowie als Mitbegründer der «Volksstimme». «Mit Matt. Bitterlin», heisst es weiter, «verschwindet ein liebes, charakterisches Bild des alten Sissach.»
Die «Volksstimme» von damals leistete Heiner Oberer auch wertvolle Hilfe, um den Alltag im Dorf vor 130 Jahren nachzuzeichnen, beginnend mit dem kulturellen Angebot über den Coiffeur, der zugleich Zähne zog, bis zum Direktor der Oberen Fabrik, der Seidenbandfabrik mit ihren 200 Angestellten, sowie den Nachwehen der Kantonstrennung.
Mit dem Landjäger spazieren wir dem stinkenden Diegterbach entlang, in den alles entsorgt wurde, begegnen «Vaganten», wie sie damals hiessen, und erfahren, dass Brände und Unfälle damals zum Alltag gehörten. Selbstverständlich schafft es Oberer, der vor vier Jahren das umfassende Buch «Eusi Fasnecht» herausgegeben hat, auch dieses Thema in Matthias Bitterlins fiktiven Tag zu integrieren.
Wir begegnen dem Laternenanzünder oder etwa einer Zeitungsnotiz zum «hier wohnhaften Tagelöhner Heinrich Handschin-Fiechter», der am Bahnhof verunglückte. «Erst nach der Hand fand man dessen entseelten Leichnam zwischen den Schienen liegend.» Er hinterlasse «eine arme Witwe mit sieben unerzogenen Kindern». So erleben wir Lokalgeschichte ganz nebenbei.
Bevor der inzwischen müde und angetrunkene Matthias Bitterlin «auf der Wacht», wo er arbeitet und oft auch nächtigt, einschläft, blickt er für sich auf seinen langen Tag und auf seinen Beruf zurück. Täglich schaut er vielem Elend in die Augen, «Kinder, die um das tägliche Brot kämpfen und von den überforderten Eltern immer wieder auf besser Zeiten vertröstet werden», Ehemänner, die «dem Alkohol verfallen und zu Wutausbrüchen neigen».
Heiner Oberer hat mit seiner Mischung von Fakten und Fiktion ein Bild von Sissach in der damaligen Zeit nachgezeichnet, das uns bisweilen schmunzeln lässt, aber immer wieder Betroffenheit auslöst. Ein bemerkenswertes Geschenk ohne Verklärung und Fanfare an die jubilierende Gemeinde.
«Der Landjäger» ist erhältlich bei Heiner Oberer persönlich oder bei der Papeterie Pfaff in Sissach. Am Freitag, 15. August wird der Autor um 19 Uhr im Jakobshof in Sissach eine Lesung halten.