Meinungs narzissmus
30.01.2025 BennwilMichael Bürgin, Gemeindepräsident Bennwil, parteilos
Kennen Sie das auch? Sie sitzen bei einem gemütlichen «Znacht» und es gibt diese eine Person, die über alles Bescheid weiss. Sie sagt der Lehrerin, wie man richtig Französisch ...
Michael Bürgin, Gemeindepräsident Bennwil, parteilos
Kennen Sie das auch? Sie sitzen bei einem gemütlichen «Znacht» und es gibt diese eine Person, die über alles Bescheid weiss. Sie sagt der Lehrerin, wie man richtig Französisch unterrichtet, belehrt die Physiotherapeutin über Behandlungsmethoden, weist den Bauern auf den korrekten Aussaatkalender hin und sagt dem Musiker, dass Beethoven eigentlich ein mittelmässiger Komponist war.
Das Erstaunliche ist, dass diesem Typ Mensch zugehört wird. So sind wir erzogen worden: Immer demütig und höflich bleiben. Bloss niemanden in die Schranken weisen. Bloss nicht arrogant wirken und nicht auffallen. Innerlich «ginggt» man solchen Personen aber gerne gegen das Schienbein und nervt sich danach über die fehlende Schlagfertigkeit. Was es am Esstisch gibt, existiert viel gewichtiger im Journalismus und in der Politik: Letzthin schrieb ein Journalist über den Naturpark, dass das Oberbaselbiet von schottischen Hochlandclans regiert zu sein scheint. Vielleicht ist ihm dieses lustige Bild bei einem Bier mit seinen Kollegen gekommen. Und weil das Bild so lustig ist, macht er ein völlig unreflektiertes Geschreibsel daraus. Er beleidigt die Oberbaselbieter Demokratie, nur um seinen lustigen Gedanken in fetten Buchstaben zu verewigen.
Als ich letzthin mit einer meiner Klassen eine Debatte über das Thema «Religion in der Musik» hatte, war ich sehr angetan, wie vorbildlich diskutiert wurde. Meinungen wurden gehört, verglichen und am Ende akzeptiert. Es ging nie um das unbedingte Beibehalten der eigenen Meinung, eben den Meinungsnarzissmus. Danach ging ich ins Lehrpersonenzimmer und wollte einem Kollegen meine Erfahrung kundtun. Bevor ich einen Halbsatz vollenden konnte, kam seine Antwort: «Bach war sowieso ein Antisemit.» Angewidert ob einer solchen Äusserung, die ihre Rechtfertigung nur in der Provokation hat, ging ich weg. Das tolle Gefühl, das ich nach der Debatte mit der Klasse hatte, war zerstört.
Wenn ich mir gegenwärtige Wahlkampfreden anhöre, kann ich nur hoffen, dass die «Jungen» diesbezüglich nichts von uns «Alten» lernen. Was bringt die Menschen dazu, eine Meinung «rauszuhauen», Hauptsache sie geht viral? Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist eine psychische Gesundheitsstörung, die gekennzeichnet ist durch ein tiefgreifendes Muster des Überlegenheitsgefühls (Grössenwahn), den Drang nach Bewunderung und fehlendes Mitgefühl. Diese Definition stammt aus dem «MSD Manual».
Kürzlich hat ein Zuschauer am FCB-Match gerufen: «Wächsled dr Fink us, die Tröte bringt nüt!» – Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass Bradley Fink gar nicht spielt. Er sagte nur: «Egal, der bringt eh nüt und ich dörf mini Meinig ha.» Gespräch zu Ende. Wie begegne ich dem Fan oder Donald Trump (gut – ihm werde ich nie begegnen)? Mit Mitleid? Ist es nicht ein Gebot der Zivilcourage zu versuchen, ins Gespräch zu kommen? Ist das höflich und demütige Schweizerische nicht eine Ausrede, um Dinge nicht mühsam ausdiskutieren zu müssen?
In seinem lesenswerten Buch «Ich und Du» schreibt Martin Buber (1878–1965): «Alles wirkliche Leben ist Begegnung.» Lasst uns also Begegnungen zelebrieren und Gespräche führen, um nicht in unseren Meinungen zu vereinsamen. Übrigens: Die Debatte an der Einwohnergemeinde Bennwil über den Naturpark war hochanständig und ich kann versichern, dass nie schottisch gesprochen wurde.
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.