Mama zwischen Himmel und Erde
04.07.2024 SissachAlle empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen waren gemacht worden, das Kinderzimmer war fixfertig eingerichtet. Doch dann kam alles ganz anders. Die Mutter, Jlonka (38), erzählt, wie sie den Verlust ihres Kindes erlebt und gelernt hat, damit zu leben.
Brigitte Keller
...Alle empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen waren gemacht worden, das Kinderzimmer war fixfertig eingerichtet. Doch dann kam alles ganz anders. Die Mutter, Jlonka (38), erzählt, wie sie den Verlust ihres Kindes erlebt und gelernt hat, damit zu leben.
Brigitte Keller
Voller Vorfreude fuhren Jlonka und ihr Mann im Oktober 2021 zur Geburt ihres ersten Kindes ins Spital. Ein Kaiserschnitt war geplant, da die Schwangerschaft mit sehr starken Rückenschmerzen einhergegangen war und sich die werdende Mutter eine natürliche Geburt unter diesen Umständen nicht vorstellen konnte. Es war nachmittags um 15 Uhr, als der kleine Jonah auf die Welt kam. Wie üblich wurde das Kind von einer Hebamme in Empfang genommen und für die ersten Checks mitgenommen, der frischgebackene Vater begleitete sie wie vereinbart.
Die Minuten zogen sich hin und die junge Mutter wurde unruhig. Endlich kam ein Kinderarzt und sagte, ihr Sohn würde ins Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) gebracht. Man habe bei der Untersuchung Probleme mit der Sauerstoffsättigung und eine kleine Spalte im hinteren Gaumenbereich festgestellt, was ab und zu vorkomme und nicht weiter tragisch sei. Sie brauche sich aber keine Sorgen zu machen, man wolle einfach sichergehen und ihn im Kinderspital noch genauer untersuchen lassen.
Jlonka blieb alleine zurück, da ihr Mann auf ihren Wunsch hin mit dem Neugeborenen ins Kinderspital mitfuhr. Die Zeit verging, ohne zu wissen, was los war. Nach etlichen Stunden endlich die Stimme ihres Mannes am Telefon. Leider gab es schlechte Nachrichten: Aufgrund weiterer Auffälligkeiten wurde im UKBB entschieden, dass Jonah mit der Rega ins Inselspital nach Bern verlegt werden sollte. Es war etwa 22 Uhr, als das Kind abgeholt wurde. Für den Vater war im Helikopter kein Platz. Somit musste er schweren Herzens zusehen, wie der Helikopter mit seinem kleinen Sohn Richtung Bern davonflog. Müde, voller Sorgen und Ängste, ging der Vater zurück zu seiner Frau ins Spital. Zusammen warteten sie auf den erlösenden Anruf, ob ihr Junge den Flug gut überstanden hatte und wie das weitere Vorgehen wäre.
Getrennt
Normalerweise würde die Mama des Kindes in einem solchen Fall sofort ins selbe Spital verlegt werden wie ihr Kind, doch aufgrund der damals geltenden Corona-Beschränkungen blieb Jlonka dies versagt. Die nächsten vier Tage verbrachte sie ohne ihren Mann und ohne ihr Kind im Krankenzimmer in Basel und ihr Mann wachte an der Seite des Neugeborenen im Inselspital in Bern. Die Nächte verbrachten die frischgebackenen Eltern zusammen im Spital in Basel, damit sie gemeinsam Kraft sammeln konnten. Eine unglaublich schlimme Zeit. Die junge Frau war Mutter geworden und das kranke Kind war unerreichbar weit weg.
In Bern wurde Jonah weiter untersucht. Schnell war klar, dass er eine grosse Operation bräuchte. Nach etlichen Aufklärungsgesprächen mit Professoren und vielen Überlegungen stand der Termin für die sehr grosse Operation fest. Mittlerweile war Jonahs Mutter entlassen worden und wachte ab dann gemeinsam mit ihrem Mann am Spitalbett ihres Sohnes in Bern.
Kurz vor dem Operationstag kam aber alles anders als geplant: Es meldete sich die Genetikerin vom Inselspital bei der jungen Familie. Weitere Untersuchungen seien gemacht worden und hätten eine genetische Mutation – in diesem Fall eine Laune der Natur – zutage gebracht. Der Schock über die unerwartete Nachricht war riesig. Ein weiteres Mal wurde der jungen Familie der Boden unter den Füssen weggerissen. Wieder vergingen Tage mit vielen Gesprächen. In den nächsten Tagen durften beide Grosselternpaare Jonah – ihr erstes Enkelkind – endlich auch kennenlernen, was ein unglaublich emotionaler Moment war und bis heute für alle Beteiligten äusserst wertvolle Erinnerungen sind.
Abschied
Doch dann stand die Welt für die junge Familie plötzlich still: Am 13. Tag nach der Geburt verstarb Jonah in den Armen seiner Eltern. «Worte können bis heute nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Kind für immer einschläft und man Abschied nehmen muss», sagt die Mutter, als sie ihre Geschichte erzählt. Wie sollte das Leben nun weitergehen? Plötzlich machte einfach alles keinen Sinn mehr. Das Spital verlassen ohne Kind, obwohl man sich doch auf ein Leben zu dritt eingestellt hatte? Obwohl doch zu Hause alles bereit war für den kleinen Jonah? Plötzlich befand sich das Paar in einem Leben voller Trauer, Schmerz, Sprachlosigkeit und unüberwindbar scheinenden Herausforderungen.
Das Team des Spitals hatte zuvor der jungen Familie von der Organisation «Herzensbilder» erzählt. Dort arbeiten ehrenamtlich Fotografen und Fotografinnen, die gerufen werden, wenn eine Familie Abschied nehmen muss. «Zuerst hatten wir grosse Mühe bei der Vorstellung, dass eine Fotografin uns in dieser Lebenssituation fotografiert, aber heute sind wir sehr froh, dass wir dies zugelassen haben. Denn es sind unsere einzigen Familienbilder, die wir mit Jonah haben», sagt Jlonka dazu.
«Die unglaublich schwere Zeit ging nach dem Tod weiter», erzählt Jlonka. Zuerst musste man sich um alle Entscheidungen und Formalitäten kümmern, die rund um den Tod zu erledigen sind. Gleichzeitig seien ja alle Symptome, die eine Geburt und ein Kaiserschnitt mit sich bringen, vorhanden gewesen. «Zu zweit im Haus, ohne Kind, in dem Heim, wo alles für den neuen Erdenbürger bereitgestanden hatte, war die Stille kaum auszuhalten. Wir waren frischgebackene Eltern und konnten unser Elternsein nicht ausleben. Wir hatten einfach jeden Tag gehofft, dass ganz schnell wieder Abend war und damit ein weiterer Tag überstanden», sagt Jlonka.
Verschanzt
In den folgenden Wochen – in der sie offiziell im «Mutterschaftsurlaub» war – verschanzte sich Jlonka komplett. Sie fürchtete sich davor, Menschen zu begegnen und deren Blicke und Fragen beantworten zu müssen. «Die sehen mich alle ohne Bauch und ohne Kind, was sage ich dann?» Das Schlimmste, als sie sich wieder aus dem Haus traute, seien Leute gewesen, die sie nicht ansprachen, sondern nur anschauten. Was sie wohl von ihr dachten? Es war für Jlonka eine Zeit, in der es zu berührenden Begegnungen kam, aber auch zu Situationen mit vielen unbedachten Aussagen und Ratschlägen. Auch als Paar steht man nach dem Kindsverlust vor einer grossen, wenn nicht gar der grössten Beziehungsprobe. Jonahs Eltern haben die Herausforderung zusammen gemeistert.
Eine wichtige Vertrauensperson und grosse Stütze während der ganzen Zeit sei ihre Hebamme gewesen, sagt Jlonka. «Ich sagte ihr, dass ich auf keinen Fall in einen ‹normalen› Rückbildungskurs gehen werde. Denn von allen glücklichen Mamas zu hören, dass sie müde sind aufgrund schlafloser Nächte oder anstrengender Tage, das kann ich nicht ertragen, denn ich würde alles dafür geben, könnte Jonah bei mir sein.» Michelle Bichsel habe ihr daraufhin erzählt, dass es einen «Rückbildungskurs nach Kindsverlust» gebe. An diesem hat Jlonka dann teilgenommen. «Bei diesen Treffen herrschte von Anfang an eine tiefe Verbundenheit. Denn gewisse Dinge können nur Betroffene verstehen und nachvollziehen», sagt sie.
Dankbar ist Jlonka auch ihrem Arbeitgeber. Dieser hatte Verständnis dafür, dass sie früher als geplant wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollte. Er habe dafür die ganze Abwesenheitsplanung auf den Kopf gestellt.
Monate voller Aufs und Abs folgten. Monate mit vielen Tränen und Trauer, eine Zeit, die unglaublich viel Kraft brauchte. «Irgendwie muss man sich zurück ins Leben kämpfen, auch wenn man zu Beginn absolut nicht weiss, wie. Wie und weshalb soll man Kraft aufbringen, wenn doch gefühlt nichts mehr Sinn macht?», erzählt Jlonka. Dank der Familie, Freunden und der Hilfe von einer Psychologin mit dem Schwerpunkt «Kindsverlust» ging das Stück für Stück immer ein wenig besser.
Schwesterchen
Die Zeit verging und im Januar vergangenen Jahres durfte sich das Paar über die Geburt eines kleinen gesunden Mädchens freuen. «Die Schwangerschaft mit unserer Tochter war unser Anker und Halt in der schweren Zeit nach Jonahs Tod.» Doch das Paar hatte mit vielen Ängsten zu kämpfen. «Eine Folgeschwangerschaft, nach einem Kindsverlust, ist mit sehr vielen Ängsten und Sorgen verbunden», sagt Jlonka. Ihre vertraute Hebamme und eine sehr verständnisvolle Frauenärztin standen der Familie bei. Eine unermessliche Hilfe seien auch Gespräche mit Müttern gewesen, die ebenfalls einen Kindsverlust erlitten und danach gesunde Kinder zur Welt brachten.
Das Durchhalten hat sich gelohnt. «Unsere Tochter, Jonahs kleine Schwester, hat uns die Sonne in unser Leben zurückgebracht. Wir sind der festen Überzeugung, dass uns Jonah im Himmel sein kleines Schwesterchen geschickt hat. Jonah ist nun grosser Bruder und wird es für immer bleiben», so Jlonkas Worte.
Die kleine Tochter des Paars ist mittlerweile 17 Monate alt. Doch noch immer hat Jlonka ihr Urvertrauen ins Leben nicht wiedergefunden. Nicht ständig vom Schlimmsten auszugehen, daran muss sie noch arbeiten. Neben sehr vielen Alltagssituationen sind insbesondere die Kinderarztbesuche mit ihrer Tochter, die von vielen Ängsten begleitet sind, bis heute eine grosse Herausforderung für sie. Die Kinderärztin habe aber zum Glück viel Verständnis für die besondere Lage.
Reden
«Mama sein zwischen Himmel und Erde ist eine tägliche Herausforderung und mit sehr vielen Emotionen verbunden. Jonah ist unser erstgeborenes Kind und wird es immer bleiben», sagt Jlonka. «Doch bis heute habe ich zu kämpfen damit, dass man mich nur mit einem Kind sieht, obwohl ich doch zweifache Mama bin. Mir ist es sehr wichtig, dass Jonah auch von unseren Mitmenschen im Umfeld nicht vergessen geht. Mir hilft es, über ihn sprechen zu können.»
Dass die Leute in ihrem Umfeld auch überfordert gewesen seien mit der Situation nach Jonahs Tod, könne sie verstehen. Denn der Tod sei bis heute ein Tabuthema, und der Tod eines Kindes sorgt für noch mehr Sprachlosigkeit. Dass einige von ihnen dann gar nichts gesagt hätten oder sich sogar zurückgezogen hätten, sei jedoch schade und schmerze bis heute. «Wenn man so einen Schicksalsschlag erlebt, weiss man danach ganz genau, wer die wirklichen Freunde sind und wer wirklich immer für einen da ist.» Sie hätte sich gewünscht, dass diese Leute zu ihr gekommen wären und gesagt hätten: Es tut mir sehr leid, was dir passiert ist. Ich weiss nicht, wie ich mich verhalten soll. Was kann ich tun?
Jlonka hilft mittlerweile selber betroffenen Frauen, indem sie von ihren Erfahrungen anlässlich von «Rückbildungskursen und Neuorientierung nach Verlust eines Kindes» erzählt, die in Sissach und Gelterkinden angeboten werden (die «Volksstimme» berichtete).
«Seit Jonahs Tod ist nichts mehr, wie es einmal war, und wird es wohl auch nie mehr sein», sagt Jlonka. «Ich war immer sehr offen und habe schnell gemerkt, dass ich Gleichgesinnte um mich herum brauche und auch professionelle Hilfe benötige. Deshalb habe ich mir mein Netzwerk nach Jonahs Tod aufgebaut und mir Hilfe geholt.»