Kunst aus Abfall – ein Weckruf
07.10.2025 SissachCristoforo Graziano zeigt seine «Wecksteine» im Tierpark Lange Erlen
Ob Bierdose, Nagel oder Pflasterstein: Cristoforo Graziano verwandelt Weggeworfenes in Denkanstösse. Seine Kunst fragt, was Reichtum wirklich bedeutet – und wie wir mit Ressourcen umgehen. Ab 2026 ...
Cristoforo Graziano zeigt seine «Wecksteine» im Tierpark Lange Erlen
Ob Bierdose, Nagel oder Pflasterstein: Cristoforo Graziano verwandelt Weggeworfenes in Denkanstösse. Seine Kunst fragt, was Reichtum wirklich bedeutet – und wie wir mit Ressourcen umgehen. Ab 2026 trägt die «Galerie Vielfalt Graziano» seine Handschrift.
Melanie Frei
Cristoforo Graziano wohnt in einem von Kunst geprägten Haus in Sissach, das alteingesessenen Sissacherinnen und Sissachern bekannt sein dürfte. Im mehr als 100 Jahre alten Grunder-Haus gingen Künstler wie Walter Eglin, Fritz Pümpin und Jacques Düblin ein und aus. Mit Kunst hatte Graziano selbst aber lange nichts zu tun. Dass er nun eigene Kunst herstellt, die er auf einer Website vermarktet, und ab 2026 eine Galerie betreibt und Kurator einer jährlichen Ausstellung im Tierpark Lange Erlen in Basel ist – das hätte er vor ein paar Jahren nicht gedacht.
Seine Leidenschaft für die Kunst begann auf langen Spaziergängen zwischen Sissach, Itingen und Zunzgen. «Das ist der Gegenpol zu meiner eigentlichen Arbeit», erklärt der 56-Jährige, der in leitender Position beim Erziehungsdepartement Basel-Stadt für die Berufsbildung tätig ist. Über falsch oder gar nicht entsorgten Abfall ärgerte er sich sehr. Der Wendepunkt kam auf einer Kuhweide in Zunzgen. Dort, wo eine Hinweistafel mahnt «Ich esse lieber Gras statt Müll», lagen vier Bierdosen im Gras.
Aus seinem Frust wuchs der Wunsch, etwas Konstruktives daraus zu schaffen. «Ich wollte den Menschen zeigen, was dieser Abfall mit der Natur und der Umwelt macht. Ich wollte sie aufwecken», sagt er. Dabei erinnerte er sich an einen Pflasterstein, den er aufgesammelt hatte – und verwandelte ihn in seiner Kellerwerkstatt zum ersten bemalten Podest seiner «Wecksteine».
Auf den Steinen platziert sind Objekte aus aufgesammeltem Müll. Damit wird die Skulptur zum «Weckruf». Jedes Werk hat einen Titel und eine Geschichte, um das Bewusstsein für eigenes Konsumverhalten und Umgang mit Abfällen zu schärfen. «Ich will nicht mit dem Mahnfinger durch die Gesellschaft gehen. Ich bin überzeugt: Man kann bewusst konsumieren und auch auf Dinge verzichten.» Als Beispiel nennt Graziano die gefundenen Bierdosen in Zunzgen und alte Nägel am Strassenrand in Sissach. Er bezeichnet das Objekt als «kein Durst mehr». Es steht auf einem goldenen Podest – einem Pflasterstein, der mit 24-Karat-Gold überzogen ist – mit der Aufschrift «wir sind reich». Das Werk macht sichtbar, dass wir zwar materiell reich sind, aber durch unsere Gewohnheiten und den achtlosen Umgang mit Abfall Kosten für andere Lebewesen und die Umwelt verursachen. Zum Beispiel Kühe, die das Futter erhalten, das vermischt wurde mit geschredderten Bierdosen. Graziano hinterfragt, was «Reichtum» wirklich bedeutet: Geld, Konsum und Überfluss – oder doch Bewusstsein, Verantwortung und Nachhaltigkeit?
Die verschiedenen Objekte können auf unterschiedliche Podeste platziert werden, wodurch ihre Aussage je nach Interpretation variiert. Nimmt man den goldenen «Weckstein» und setzt darauf falsch entsorgtes Verpackungsmaterial von Medikamenten, entsteht eine Auseinandersetzung mit unserem Gesundheitswesen. Die Kosten steigen – wer soll diese tragen?
«Du bist Künstler!»
Bis vor zwei Jahren zögerte Graziano, sich Künstler zu nennen. «Ich habe keine künstlerische Ausbildung. Und ab wann ist man überhaupt ein Künstler?», fragte er sich. In dieser Phase suchte er den Kontakt zu Heinz Hänni, den er bis dahin nur flüchtig kannte. Bei einem Treffen zeigte er ihm seine «Wecksteine» und erklärte seine Idee. Hänni war überzeugt – und lud ihn ein, an seiner nächsten Ausstellung in den «Langen Erlen» teilzunehmen.
Beim Künstlertreffen im Juli zur diesjährigen Ausstellung verkündete Hänni, dass dies altersbedingt seine letzte Ausstellung sei. Diese Bemerkung liess Graziano nicht mehr los. Seit 18 Jahren organisierte Hänni Ausstellungen, seit zehn Jahren in den «Langen Erlen». «Hänni bietet eine Plattform für Künstlerinnen und Künstler. Er schränkt nicht ein, lässt Vielfältiges zu und verlangt keine Verkaufsprovision. Er ermöglicht ein Zusammenkommen. Das sind alles Aspekte, die ich auch als Werte durchs Leben trage», sagt Graziano. Ehrenamtliches Engagement sei ein Grundstein des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Die Galerie läuft ab kommendem Jahr unter dem Namen «Galerie Vielfalt Graziano». Der Name liegt nahe an Hännis Galerie «Vielfältig», da sich Graziano eng an dessen Leitbild orientiert. Hänni steht dem neuen Galeristen beratend zur Seite.
Offen für alle
Die Galerie ist offen für alle Kunstrichtungen und Techniken. Besonders wichtig: Das Non-Profit-Modell bleibt. Sollte ein Verkauf stattfinden, nimmt die Galerie keine Provision. «Es steht den Künstlerinnen und Künstlern frei, etwas vom Gewinn an die Galerie abzugeben. Was du verkaufst, kannst du in die eigene Tasche stecken.» Auch Grazianos Werke stehen zum Verkauf. Ein komplettes Werk – Pflasterstein und Objekt in einer staubgeschützten Vitrine – kostet 500 Franken. Ein zusätzliches Einzelteil kostet 222 Franken. Ausserdem sind individuelle Zusammenstellungen als Bild erhältlich. Der digitale Fotodruck erfolgt auf Leinwand und ist gerahmt für 222 Franken erhältlich.
Die Weiterentwicklung des Konzepts der Galerie «Vielfalt» sieht Graziano in einem stärkeren Social-Media-Auftritt und einer Website als Plattform. Den Standort der Ausstellung wolle er beibehalten, denn die «Langen Erlen» seien für ihn eine Kindheitserinnerung. «Dieses Jahr nehme ich selbst an der Ausstellung teil, um die Abläufe kennenzulernen. 2026 sehe ich, wie es sich als Organisator anfühlt.» Langfristig kann er sich auch Pop-ups an abwechselnden Orten vorstellen.
Dabei ist Graziano bewusst, dass seine Arbeit selbst im Widerspruch zu ihrer Botschaft steht. Er sammelt zwar Abfall, doch durch die Bearbeitung mit Farben, Lacken oder Edelmetallen entsteht letztlich auch zusätzlicher Müll. «Ganz kritisch müsste ich sagen: Es entsteht Abfall, der ohne meine Kunst gar nicht existieren würde», meint er dazu. Für Graziano liegt die Rechtfertigung in der Wirkung: «Der Einsatz von nicht nachhaltigen Materialien kann sich lohnen, wenn die Botschaft dadurch stärker wahrgenommen und weitergetragen wird.» Seine Hoffnung ist, dass die Werke Diskussionen anstossen – und die Auseinandersetzung mit Konsum und Verantwortung den ökologischen Fussabdruck seiner Arbeit überwiegt.
Ab dem 11. Oktober sind Grazianos «Wecksteine» im Pavillon «Lange Erlen» zwei Wochen lang zu sehen – zusammen mit Werken von zehn weiteren Künstlerinnen und Künstlern.