Klingende Zeitreise
29.02.2024 Schweiz«Irrwisch» mit dem Gelterkinder Adrian Wirz mit neuem Album zurück
Die Rockgruppe Irrwisch mit ihrem Gelterkinder Bassisten Adrian Wirz bereist stilistisch mit dem neuen Album «Changes» zwar die 70er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Jedoch werden in ...
«Irrwisch» mit dem Gelterkinder Adrian Wirz mit neuem Album zurück
Die Rockgruppe Irrwisch mit ihrem Gelterkinder Bassisten Adrian Wirz bereist stilistisch mit dem neuen Album «Changes» zwar die 70er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Jedoch werden in den Texten aktuelle Emotionen, Gedanken und Vorkommnisse verarbeitet.
Pek Krattiger
Schon Mitte der 1970er-Jahre war die Solothurner – genauer Kestenholzer – Band Irrwisch mit dem Baselbiet verbunden, damals durch die aus Waldenburg stammenden Peter «Pek» Krattiger (Gitarre, Autor dieses Artikels) und Wolfgang Hafner (Trompete, Perkussion). Mit dem Gelterkinder Bassisten Adrian Wirz fand diese überregionale Verbindung eine Fortsetzung, als dieser sich auf ein Stelleninserat beworben hatte, worin «Irrwisch» nach einem Ersatzbassisten für ein (1!) Konzert suchten. Das war vor 20 Jahren. Die Chemie hatte offensichtlich gestimmt: Wirz gehört seither zur Band.
Übrigens hatte das heutige Mitglied der Band bereits als kleiner Bub einen «Irrwisch»-Auftritt gesehen, als die Gruppe an einer Gelterkinder Gewerbeausstellung von einem ortsansässigen Lautsprecher-Importeur engagiert worden war. Nichts ahnend, dass sich ihre Wege noch kreuzen würden, hatte er den Namen nie vergessen, da ein Passant sich dahingehend äusserte, dass die Band tatsächlich «Irr» und ihre Musik zum «Wegwischen» sei. Wie wir heute erkennen können, hat Wirz diese Meinung offensichtlich nicht geteilt.
Corona beeinflusst Produktion
Sämtliche Songs für ein neues Album waren aufnahmereif – da wird die Welt von der Pandemie heimgesucht. Zusammenspielen wird plötzlich zur Herausforderung. Der Proberaum wird stillgelegt, die Musiker gehen im Homeoffice in Deckung. Oft werden Aufnahmen als Fragmente hin- und hergeschickt, welche die belieferten Musiker dann ergänzten. Das Schlagzeug steht im Schlafzimmer des Drummers. Die anderen Instrumente in den jeweiligen Wohn- oder Musikzimmern der beteiligten Musiker. Auf den Tonmischungen von Chris Bürgi (mit Steff Bürgi das übrig gebliebene Duo der Urbesetzung) hört man aber zur Freude des Publikums eine druckvoll zusammenspielende Band mit einer Spielfreude, der es nicht anzumerken ist, welche Hindernisse dem gemeinsamen Musizieren in den Weg gelegt worden waren.
Die Zeitmaschine öffnet bei ihrer ersten Zwischenlandung die Türen in eine 1980er-Jahre-Landschaft. Die CD beginnt hymnisch mit «Let a Little Light Shine»: 1980er-Stadion-Rock. Die Botschaft ist positiv: «Gib nicht auf!» Ein Sequenzer erdet den Song mit filigranem Netz und doppeltem Boden, womit sich ein druckvoller Cocktail von Gesängen, Synthesizern und Gitarren darüber bilden lässt. Die Musik wird von Bass und Schlagzeug in den vor dem geistigen Auge erscheinenden Nachthimmel über das wogende Publikum eines imaginären Open Airs getrieben.
Der zweite Song beginnt wie ein Soundtrack einer noch zu erfindenden Fernsehkrimiserie. In «Love Hurricane» wird aber von einer stürmischen Leidenschaft erzählt, die sich nicht zwingend für einen Krimi eignet. Die Besetzung einer klassischen Rockgruppe von damals fährt in die Beine und den Bauch. Kraftvoller Gesang, effektbeladene Gitarrensounds von clean bis dirty und der zwingende Drive des Pianos. Ein jubilierendes Saxofonsolo von Andi Hürzeler wird abgelöst vom Klang einer schon damals altehrwürdigen Hammond mit dem Rotationslautsprecher-Möbel-Ungetüm (heutzutage oft rückenfreundlich virtuell erzeugt). Fette Synthesizer imitieren zusammen mit dem Saxofonisten einen funky Bläsersatz, dazu der treibende Bass und das treibende Schlagzeug.
Der Pandemie-Song
«Normal Life» – das normale Leben während der Pandemie, ein Song über Einsamkeit. Der treibende Achtels-Bass verhindert Depression und Hoffnungslosigkeit. Schön, wie sich Synthesizer und Sologitarre liebevoll ineinander verschlingen.
Die Zeitmaschine ist schon aufgetankt, und wir bewegen uns musikalisch noch etwas weiter zurück. Bei «Changes» feiern Steff Bürgi und Andi Hürzeler mit Wurlitzer-Pianosound und Saxofon einen Gruppenklang, der vor Jahrzehnten eine Epoche des Poprocks geprägt hat. Wie bei jedem Song hat Chris Bürgi seine Texte mit der Zeitmaschine aus der Zukunft mitgebracht. Hier handelt der Text vom Hören auf sein Inneres, unbeirrt von den Tausenden Ablenkungen und Bedrohungen, die das Leben zu bieten hat.
Es folgt «In Your Open Eyes» in jazziger Melancholie und relaxter Atmosphäre. «Halt ein und schau dich um, und die Welt spiegelt sich in deinen Augen.» Ein souliges E-Piano lädt das Saxofon ein, sich zum Schluss gemütlich dazuzugesellen. Die verträumte Gitarre kommt dazu und knuddelt mit.
Nach der verspielten Welt des Kreativ-Rocks nach «Still a Light», ein Lied über Hoffnungsschimmer trotz Kummer und Verzweiflung, wird der Zuhörer wieder in die Zeitmaschine gebeten und findet sich nach einem grösseren Zeitsprung plötzlich im Kreativ-Rock der 1970er-Jahre wieder, der es wagte – im Gegensatz zu späterem Progrock – sich von ganz und gar «No Metal»-Musik, wie zum Beispiel Tänzen der Renaissance, inspirieren zu lassen. Ein Intro dieser Machart bietet «Primavera Part A», wo ein Spinett der Querflöte Adrian Studers fröhlich den Weg zeigt. Bald lässt die Musik den Zuhörer meinen, den süsslichen Rauch wahrzunehmen, der sich damals im Zürcher Hallenstadion verbreitete, wenn Gruppen auftraten, die, obwohl nie von einem Radiosender gespielt, vor vollem Haus performten.
Auf der vorliegenden Tonkonserve einer Band, die immerhin zweimal auf der Hallenstadionbühne stand, herrscht erfrischender anachronistischer Optimismus, eine Hommage an eine Musikszene, in der die schöpferische Passion zeitweise das sonst übliche monetäre Erfolgsstreben weit hinter sich zurückliess (was wiederum gerade wegen der vom Publikum begrüssten Kompromisslosigkeit bei ein paar, vor allem britischen, Bands zu grossem Erfolg geführt hatte).
Derweil fliegt dem darin schwelgenden Zuhörer bei «Primavera» Part A, B und C der aus dem mittelalterlichen Jahrmarktstänzchen emporgewachsene polyrhythmische Bombastrock nur so um die Ohren, sodass es den Geniesser gelüsten könnte, den Zündungsschlüssel bei der Zeitmaschine rauszuziehen und wegzuwerfen.
«Irrwisch» hat möglicherweise genau das getan, denn mit «Imagination» geht es weiter mit Farbenreichtum (entgegen des Covers) und Lebensmut. Ob der weisse Vogel die Erneuerung bringt? Ein sanftes Lied entwickelt sich gemächlich zu einer Orgie der hymnischen Akkordprogressionen mit wuchtigen Bässen, Gitarren und Himmelschören. Irgendwo kämpft sich ein monofon sägender Synthesizer aus einer anderen Zeit durch das Meer von fast vergessenen Klanggebilden und Schlagzeugrhythmen, denen es immer noch gelingt, bei manchen ein süsses Kribbeln im Nacken zu erzeugen, gefolgt von einem wohligen Schauder entlang der Wirbelsäule.
Mit «Quo vadis» schliesst das Album: Der Klang der Nacht um uns scheint weder bedrohlich noch kalt. Die geheimnisvollen Schatten mögen uns den richtigen Weg weisen.
Als Fazit darf gesagt werden, dass der «Irrwisch»-Fan, der die ganze Karriere der Band mit Begeisterung begleitet hat, mit «Changes» ein Werk vorfindet, das seine Erwartungen über die volle Länge erfüllen dürfte. Die früheren oder späteren «Irrwisch»-Fans werden vielleicht stilistisch die eine oder andere Hälfte des Albums bevorzugen. Dann gibt es natürlich die Noch-nicht-«Irrwisch»-Fans: Sie könnten es mit dieser CD werden.
Die CD «Changes» ist erhältlich unter anderem bei www.irrwisch.ch/shop
Pek Krattiger (1957), der Autor dieser Rezension, war zwischen 1974 und 1992 Gitarrist bei «Irrwisch» (7 Alben und mehrere Singles im Studio). Auftritte als Irrwisch-Gitarrist neben vielen Open-Airs und Klubs u. a.: Jazz-Festival Montreux, Hallenstadion Zürich, St.-Jakobshalle Basel, Westfalenhalle Dortmund. Siehe auch www.de.wikipedia.org/wiki/ Peter_Krattiger
Die Besetzung
pek. «Irrwisch» sind: Steff Bürgi (Vocals, Piano, Keyboards, Programming), Chris Bürgi (Guitars, Bass, Programming, Backing Vocals), Adrian Wirz (Bass), Andi Hürzeler (Sax), Andreas Grüter (Drums).
Ebenfalls auf dem Album zu hören: Adrian «Ädu» Studer (Querflöte), Sabine Hasler (Gesang) und Joseph Kissling (Drums).