«Kinder sind nicht kleine Erwachsene»
28.12.2024 RegionUKBB-VR-Präsident Marc-André Giger fordert eine bessere Kostenabgeltung in der Kindermedizin
Das Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) verzeichnet jährlich mehr als 6000 stationäre und mehr als 110 000 ambulante Behandlungen. Verwaltungsratspräsident ...
UKBB-VR-Präsident Marc-André Giger fordert eine bessere Kostenabgeltung in der Kindermedizin
Das Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) verzeichnet jährlich mehr als 6000 stationäre und mehr als 110 000 ambulante Behandlungen. Verwaltungsratspräsident Marc-André Giger spricht über die Herausforderungen des Kinderspitals und der Kindermedizin im Allgemeinen.
Andreas Bitterlin
Herr Giger, die Gesundheitskommissionen des Baselbieter Landrats und des Basler Grossen Rats kritisieren unisono die Gesundheitspolitik und Spitalplanung der Kantonsregierungen. Sie betrachten mit Sorge, dass die beiden Kantone ihre Angebote kaum aufeinander abstimmen. Merken Sie aus Sicht des UKBB etwas von dieser Missstimmung?
Marc-André Giger: Nein. Wir sind ein bikantonales Spital mit zwei Eignern, die beide das Ziel verfolgen, die medizinische Versorgung für die Kinder in der Region zu sichern. Dabei ist das UKBB ein wichtiger, ja systemrelevanter Baustein.
Worauf führen Sie es zurück, dass die kantonsüberschreitende Zusammenarbeit in der Kindermedizin klappt, in der Erwachsenenversorgung jedoch nicht?
Als UKBB-Verwaltungsratspräsident kann ich für die Kindermedizin bestätigen, dass die Zusammenarbeit mit den Eignern grenzüberschreitend funktioniert. Mit der damaligen Gründung des UKBB war unbestritten, dass die Bündelung der Kräfte zweier Halbkantone als Mehrwert für die gesamte Region gemeinsam genutzt werden soll. Das war ein Meilenstein in der gesundheitspolitischen Zusammenarbeit.
Könnte Ihr Erfolgsrezept nicht auch von der Erwachsenenmedizin übernommen werden?
Das Ziel einer gemeinsamen Versorgung der Gesundheitsregion und einer nach Möglichkeit abgestimmten Spitalplanung ist allseits akzeptiert. Die nicht zustande gekommene Fusion von Kantonsspital Baselland und Universitätsspital Basel hat die Herausforderungen sicherlich nicht einfacher gemacht.
Sie haben das Jahr 2023 bei einem Ertrag von 157,2 Millionen Franken mit einem Defizit von 2,2 Millionen Franken abgeschlossen. Ihr ärztlicher Direktor Urs Frey schreibt im Jahresbericht, dass das UKBB «in mittelbarer Zukunft kaum Chancen hat, kostendeckend zu arbeiten». Woran krankt das Gesundheitswesen finanziell?
Die Ertragssituation, insbesondere im ambulanten Bereich, ist in der Kindermedizin mit einem Kostendeckungsgrad von 65 bis 70 Prozent nicht tragbar. Das heisst: Wir wenden für eine Behandlung 100 Franken auf und erhalten von den Krankenversicherern 65 bis 70 Franken. Das kann auf die Dauer nicht aufgehen, insbesondere auch, weil es sich bei 95 Prozent unserer Fälle um ambulante handelt.
Wie verkraften Sie die jährlichen Defizite?
Das bereitet uns Sorgen. Auch 2024 zeichnet sich ein Defizit ab, das mit einer entsprechenden Eigenkapitalminderung refinanziert werden muss. Das ist langfristig selbstverständlich keine Perspektive. Deshalb wirken wir diesem Umstand an verschiedenen Fronten entgegen: Auf der einen Seite werden zusätzlich zu den bestehenden und bereits umgesetzten Massnahmen diverse interne Verbesserungsprogramme gefahren und die aktuelle Strategie wird überprüft. Auf der anderen Seite haben wir uns als Schweizer Kindermedizin mit der Vereinigung «AllKidS» auch an vorderster Front beim Bundesrat für eine Verbesserung der finanziellen Situation im ambulanten Bereich engagiert.
Was heisst das konkret?
Wir gehen davon aus und setzen uns dafür ein, dass per 1. Januar 2026 das neue ambulante Tarifsystem Tardoc, verbunden mit wenigen ambulanten Pauschalen, in Kraft tritt. Dies sollte zu einer markanten Verbesserung des Kostendeckungsgrads führen. Darauf sind wir angewiesen.
Warum überwiegt der ambulante Bereich derart markant?
Wir versuchen grundsätzlich, Kinder so häufig wie möglich ambulant zu behandeln, damit sie in ihrem Interesse und in jenem ihrer Familien für den Genesungsprozess heimkehren können.
Gibt es deutliche Unterschiede zwischen der Behandlung von Kindern und Erwachsenen?
Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene. Die Behandlung der Kinder ist sehr viel aufwendiger. Im Diagnosegespräch kann sich das Kind vielleicht nicht so effizient artikulieren wie eine erwachsene Person. Diese Gespräche brauchen Zeit, die uns finanziell nicht abgegolten wird. Bis vor Kurzem waren 30 Minuten für ein Gespräch vorgesehen, jetzt sind es noch 20 Minuten, was nicht ausreichend ist. Ein Beispiel: Wenn ein Kind für eine Untersuchung in ein MRI muss, kann diesem nicht kurz und bündig gesagt werden, dass es nun ruhig in der Röhre liegen muss, sondern wir müssen es zuvor beruhigen, wenn es notwendig ist, auch medikamentös. Das ist aufwendig und braucht Zeit, die uns nicht genügend vergütet wird. Das muss im neuen Tarifsystem korrigiert werden.
Leidet das UKBB auch unter dem Fachkräftemangel?
Wir spüren ihn, aber wir haben das Privileg, dass viele Berufsleute in unserem Spital aus starkem inneren Antrieb gerne in der Kindermedizin arbeiten. Einerseits wegen des Inhalts der Arbeit und andererseits wegen des guten Forschungsumfeldes. Dazu kommt die Grenznähe, die bei der Rekrutierung ebenfalls hilft.
Nennen Sie bitte ein Beispiel, wie Ihnen dieses Forschungsumfeld konkret zum Vorteil gereicht.
Wir erhalten beispielsweise Geld von der Botnar-Stiftung, die sich global um die Kindermedizin kümmert. Sie finanziert mehrere Forschungsprofessuren im UKBB und sie investiert in einen Neubau direkt vis-à-vis von uns. Das wird unter den Forschern viele Synergien generieren. Weiter investiert die Botnar-Stiftung in Allschwil 1 Milliarde Franken in einen Forschungsneubau. Als Standort stand auch Zürich zur Diskussion, aber unter anderem dank der Reputation des UKBB und der hervorragenden Zusammenarbeit von Forschung und Klink wählte die Stiftung unsere Region. Und von dieser Nähe profitieren wir.
Also eitel Sonnenschein beim Rekrutieren?
Leider können wir von unseren Lernenden nach der Ausbildung einen bedeutsamen Anteil nicht halten, weil wir keine Stellen für sie zur Verfügung haben. Sehr positiv ist aber auch, dass die Ärzteschaft aus oben genannten Gründen an uns als Arbeitgeber Interesse hat, obwohl sie im Vergleich mit der Erwachsenenmedizin deutlich schlechter bezahlt ist. Fachspezialistinnen und -spezialisten verdienen ein Drittel weniger als ihre Fachkolleginnen in der Erwachsenenmedizin.
Mit insgesamt 286 Kliniken ist die Schweiz nach Ansicht vieler Politiker überversorgt. Wie präsentiert sich die Lage in der Kindermedizin?
In der Kindermedizin ist es notwendig, dass die Kinderkliniken in der Schweiz ihre Angebote verstärkt miteinander abstimmen. Wir arbeiten mit Kinderkliniken in anderen Regionen zusammen, zum Beispiel im Wallis und im Tessin. Dort bieten wir Spezialsprechstunden an. Unsere Spezialisten reisen dorthin, diagnostizieren die Kinder und bringen sie im Bedarfsfall zu uns nach Basel zur Operation. Wenn sie wieder transportoder reisefähig sind, gehen sie zurück ins Wallis oder ins Tessin in einen elternnahen Genesungsprozess. Wir sind auch auf dem Weg zu weiteren Kooperationen, um die Kräfte zu bündeln.
Gibt es Pläne des UKBB, im Baselbiet Filialen oder Ambulatorien einzurichten, damit der Weg für die Eltern mit ihren Kindern nicht mehr so weit und – zu bestimmten Zeiten bei hohem Verkehrsaufkommen mit Staus – zeitraubend in die Stadtmitte führt?
Im Rahmen der laufenden Strategieüberprüfung machen wir uns selbstverständlich auch Gedanken zur Rolle des UKBB im ambulanten Versorgungssetting.
Der Baselbieter Gesundheitsdirektor Thomi Jourdan hat sich kürzlich vor 50 jungen Kinderärztinnen und Kinderärzten für mehr dezentrale Strukturen ausgesprochen mit Angeboten, die rascher erreichbar sind als ein Zentrum in der Stadt. Besteht da eine Meinungsdifferenz?
Die Entwicklung schreitet voran in Richtung ambulante Gesundheitszentren, das ist offensichtlich. Klar ist auch: Wir orientieren uns an den Vorgaben aus der bikantonalen Eignerstrategie. Dort ist unter anderem formuliert, dass das UKBB seine ambulanten Dienstleistungen den Anforderungen einer zunehmend ambulanten Medizin ausrichtet und diese effizient und in hochstehender Qualität in den dafür bestgeeigneten Infrastruktur-Settings erbringt.
Wie unterstützen die beiden Eignerkantone das UKBB finanziell?
Unter dem Begriff «gemeinwirtschaftliche Leistungen» gleichen die beiden Kantone unter anderem das Defizit im ambulanten Bereich teilweise aus, insgesamt mit einem Betrag von rund 15 Millionen Franken.
Was alles gehört konkret zu diesen Leistungen?
Damit wird – wie zuvor erwähnt – beim UKBB insbesondere die Unterdeckung im spitalambulanten Bereich abgegolten, des Weiteren die ärztliche Weiterbildung, der Spital-Sozialdienst sowie die Vorhalteleistungen des Perinatalzentrums für die Versorgung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen in der Zeitspanne kurz vor, während und nach der Geburt. Schliesslich gehört auch ein Beitrag an die Spitalschule zu den gemeinwirtschaftlichen Leistungen.
Neben Ihrem beruflichen Engagement beim Krankenkassenverband Santésuisse, bei Swiss Olympic und beim UKBB haben Sie als Marathonläufer und Triathlet trainiert. Sie haben als Geschäftsführer des Sport-Dachverbands Swiss Olympic Ihren Arbeitsweg von Liestal nach Bern mit dem Velo zurückgelegt. Einmal, sporadisch oder häufig?
Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, einmal pro Woche von Liestal nach Bern mit dem Velo zu fahren, auch bei Minus-Temperaturen. Das war im Rückblick am Limit, das würde ich heute nicht mehr so praktizieren. Aber ich liebe es immer noch, lange Distanzen mit dem Velo zu absolvieren. Im vergangenen Sommer fuhr ich von Basel nach Barcelona. Im nächsten Jahr steht eine Velofahrt von Barcelona über Madrid nach Lissabon an.
Zur Person
abi. Marc-André Giger (63) studierte an der Universität Basel Betriebswirtschaft und absolvierte Weiterbildungen an der Harvard Business School, am Insead in Fontainebleau und an der Universität St. Gallen, an der er den Executive MBA erlangte.
Er ist seit mehr als 20 Jahren im Gesundheitswesen tätig: Während 10 Jahren führte der Baselbieter als Direktor von Santésuisse den Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer und während mehr als 12 Jahren beriet er Spitäler in strategischen und betriebswirtschaftlichen Fragen. Vier Jahre – ein olympischer Zyklus – war er CEO von Swiss Olympic und führte die Schweizer Delegation an die Olympischen Spiele nach Peking (2008) und Vancouver (2010).
Seit Januar 2022 ist er Verwaltungsratspräsident des Universitäts-Kinderspitals beider Basel. Marc-André Giger ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er wohnt in Liestal.