Junger Afghane reüssiert in kürzester Zeit
22.11.2024 ArboldswilSeine sehr guten Deutsch- und Mathekenntnisse öffneten Reza Ebrahimi Türen
Vor einem Jahr lebte Reza Ebrahimi in einem Wohnheim, besuchte das Brückenangebot und wusste nicht so recht, wohin er beruflich steuern soll. Heute ist vieles anders: Er ist zufriedener ...
Seine sehr guten Deutsch- und Mathekenntnisse öffneten Reza Ebrahimi Türen
Vor einem Jahr lebte Reza Ebrahimi in einem Wohnheim, besuchte das Brückenangebot und wusste nicht so recht, wohin er beruflich steuern soll. Heute ist vieles anders: Er ist zufriedener Geomatiker-Lehrling, und sein Chef ist voll des Lobes über ihn.
Andreas Hirsbrunner
Die eine oder der andere mag sich erinnern: Vor einem Jahr porträtierte die «Volksstimme» den 17-jährigen Afghanen Reza Ebrahimi, der damals im Wohnheim für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) in Niederdorf wohnte. Er kam nach einer abenteuerlichen, strapaziösen Flucht von Afghanistan via Iran, Türkei, Italien und Frankreich in die Schweiz. Ebrahimi hatte seinen Vater und seinen Bruder verloren und wollte nicht in seinem für ihn perspektivlos gewordenen Heimatland bleiben.
Bei unserem erneuten Besuch ein Jahr später ist vieles anders. Als wir an seiner Wohnungstüre läuten – er wohnt seit Mitte August in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Füllinsdorf – müssen wir einen Moment warten: Ebrahimi ist gerade am Kochen eines afghanischen Gemüseeintopfs für sich und einen Freund, der ihn an diesem Samstag besucht. Und das Gericht schmeckt ausgesprochen gut. Woher wir das wissen? Ebrahimi lädt nach dem Gespräch den Schreibenden spontan zum Mitessen ein. Und das auf einem Tuch am Boden, wo wir das Essen im Schneidersitz geniessen.
Neue Sprache macht ihm Spass
Schon diese Szene sagt einiges über den vor einem halben Jahr 18 Jahre alt gewordenen Mann aus: Er weiss sich zu helfen und hat sich innerhalb kurzer Zeit das Kochen weitgehend selbst beigebracht, er ist offen und gastfreundlich und er pflegt die Traditionen seiner Heimat. Am meisten erstaunt aber seine sprachliche Entwicklung: Vor einem Jahr musste er sich öfters mit Englisch über deutsche Sprachdefizite hinweghelfen, heute spricht er annähernd perfekt Deutsch. Trotzdem meint er fast schon entschuldigend: «Es geht jeden Tag besser. Bis ich Schweizerdeutsch rede, dauert es aber noch eine Zeit lang. Aber ich verstehe fast alles.»
Sich auf Deutsch auszudrücken, macht dem jungen Afghanen sichtlich Spass. Doch sein eigentliches Steckenpferd war in den vergangenen zwei Jahren, in denen er das Brückenangebot in Muttenz besuchte, die Mathematik. Und diese öffnet ihm nun ungeahnte berufliche Horizonte. Ebrahimi holt aus: «Das Schweizer Ausbildungssystem ist ganz anders als in Afghanistan und es war am Anfang für mich etwas schwierig, es zu verstehen.» In seinem Heimatland arbeite man zum Beispiel einfach als Verkäufer, ohne dafür zuerst eine Ausbildung zu absolvieren. So stand Ebrahimi nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters schon als 13-Jähriger zusammen mit seinem Bruder in Kabul hinter der Theke des elterlichen Stoffladens. «Hier in der Schweiz», erzählt er weiter, «war es für mich kompliziert mit den mehr als 200 Berufen, die man lernen kann. Ich wusste nicht, was zu mir passt und für was ich Talent habe.»
Also begann er zu schnuppern, so in einer Bäckerei, einer Schreinerei, einer Vermessungsfirma, einem Architekturbüro und in seinem vor einem Jahr noch favorisierten Bereich, der Pflege. «Diese Schnupperlehre brach ich nach einem Tag ab, das war nichts für mich.» Parallel zur Berufssuche kümmerte sich Ebrahimi auch um seine künftige Wohnsituation und sprach deswegen bei der Gemeinde Arboldswil vor, der er als Flüchtling zugewiesen worden war. Und wie es der Zufall wollte, erschien der Gemeindepräsident, der auch die lokale Sozialhilfebehörde leitet, persönlich zum Gespräch. Dieser heisst bekanntlich Johannes Sutter und ist auch Inhaber eines grösseren Ingenieurbüros. Das Resultat des Gesprächs: Ebrahimi arbeitet seit August als Geomatiker-Lehrling bei Sutter.
Sutter, politisch in der SVP beheimatet, erzählt: «Ich wollte den jungen Mann, für den Arboldswil Sozialhilfe zahlt, persönlich kennen lernen. Und ich fiel fast vom Stuhl, als ich hörte, wie gut er nach zwei Jahren Deutsch spricht. Ich merkte schnell, dass er ein heller Kopf ist und als er sagte, dass sein Lieblingsfach Mathematik und er auf der Suche nach einer Lehrstelle sei, bot ich ihm spontan an, bei uns im Geschäft ein paar Tage als Geomatiker zu schnuppern.» Seine Mitarbeiter seien skeptisch gewesen, doch nach den Schnuppertagen habe der Tenor gelautet: «Wir hatten noch nie einen Lehrling, der so gut in Mathe ist.»
Bis jetzt, da die ersten Monate der vierjährigen Ausbildung absolviert xsind, hat Sutter seinen Anstellungsentscheid noch keinen Moment bereut, im Gegenteil: «Reza ist ein richtiger Musterlehrling – sehr engagiert und passt hervorragend ins Team. Ich habe grosse Freude an ihm.» Auch Reza Ebrahimi fühlt sich wohl in seiner neuen Arbeitsumgebung. Er sagt: «Die Lehre gefällt mir. Dies auch, weil man als Geomatiker sowohl im Büro wie auch viel draussen arbeitet.»
Er schickt Teil des Lohns heim
Mühe macht ihm hingegen nach wie vor das Heimweh. An der Arbeit, im Deutschkurs an zwei Abenden in der Woche – «Ich muss vor allem meine Schreibkenntnisse verbessern.» – oder an den Wochenenden mit Freunden beim Klettern oder Schwimmen, sei er so konzentriert, dass er nicht an Zuhause denke. Aber in seiner Wohnung überkomme ihn regelmässig das Heimweh und er telefoniere dreimal wöchentlich mit seiner Mutter und seiner Schwester in Afghanistan. Auf deren Leben angesprochen, sagt er: «Meine Mutter darf als Frau nicht arbeiten und meine Schwester musste als Mädchen nach der Primarschule ihre Ausbildung abbrechen. Vom Staat erhalten sie aber praktisch nichts.»
Unterstützt werden sie von seinem Onkel. Und mittlerweile auch von ihm selbst: Reza Ebrahimi schickt einen Teil seines Lehrlingslohns nach Afghanistan, obwohl er sich mit diesem auch an den Kosten beteiligen muss, die der Sozialhilfe der Gemeinde Arboldswil durch seine Wohnung und seine Lebenskosten entstehen.
In einer kurzen Serie erzählt die «Volksstimme» die Geschichten junger Flüchtlinge aus Afghanistan und befasst sich mit den Integrationsbemühungen von ihnen und ihren Landsleuten. Bereits erschienen: «Der Schreiner aus Teheran» (14. November) und «Wir probieren, den Klienten eine Lehre zu verkaufen» (15. November). Mit diesem Beitrag endet die Serie.
Für UMA ist es schwerer geworden
hi. In diesem Frühjahr teilte der Kanton mit, dass er seine Unterstützungspraxis für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) ändere: Sobald sie 18 Jahre alt und damit volljährig sind, ist die Gemeinde, in der sie registriert sind, für sie verantwortlich und muss finanziell für sie aufkommen. Das gilt für alles – von den Lebenshaltungskosten übers Wohnen bis zur Betreuung.
Zuvor zahlte der Kanton auch über den 18. Geburtstag hinaus Beiträge an die Betreuung, die im Baselbiet vom Erlenhof Zentrum in Reinach und seinen diversen Aussenstellen wahrgenommen wird. Gewisse Gemeinden würden die Jugendlichen weiterhin vom Erlenhof betreuen lassen, so auch Arboldswil, dem Reza Ebrahimi vom Kanton zugewiesen worden ist. Andere Gemeinden übernähmen das selbst, wobei das eine grosse Herausforderung sei, sagt Deborah Di Micco; sie hat beim Erlenhof die Geschäftsleitung für den Bereich Asyl inne.
Für Reza Ebrahimi suchte der Erlenhof zusammen mit seinem damaligen Beistand, der ihn bis zu seinem 18. Geburtstag unterstützte, eine Wohnung. Heute wird er von einem Sozialarbeiter vom Erlenhof während 16 Stunden pro Monat betreut. Dieser sei seine Ansprechperson bei schulischen, administrativen oder anderen Fragen im Alltagsleben, sagt Di Micco. Die Kosten für diese Betreuung übernimmt die Gemeinde Arboldswil. Und Di Micco fügt bei: «Die UMA haben es bis zu uns geschafft und sind es gewohnt, sich durchzuwursteln. Wenn es nicht anders geht, holen sie sich ihre Informationen über sieben Ecken. Wir hingegen wollen etwas aufgleisen mit ihnen, damit sie echt selbstständig werden.»
Prekäre Situation nochmals verschlechtert
vs. Afghanistan ist seit Jahren das wichtigste Herkunftsland von Flüchtlingen, welche die Schweiz erreichen, gefolgt von der Türkei. Im Monat September gingen laut Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) schweizweit 604 neue Asylgesuche von Afghaninnen und Afghanen ein. Rund 15 000 Personen aus dem Land befanden sich zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz im Asylprozess, 500 von ihnen sind im Baselbiet untergekommen. Erwerbstätig sind rund 35 Prozent. Die Mehrheit der Asylgesuche stammt von Männern, da es für Frauen sehr schwierig ist, das Land zu verlassen, wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe schreibt.
Die Menschenrechtslage in Afghanistan hat sich gemäss Flüchtlingshilfe seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 kontinuierlich verschlechtert. Auch die humanitäre Lage sei verheerend: «Die Taliban-Regierung hat jegliche demokratische Strukturen abgeschafft und setzt die Scharia als Rechtsgrundlage ein. Körperstrafen sind wieder an der Tagesordnung. Die Taliban gehen unter anderem gegen Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte, Medienschaffende und Kritiker vor. Seit ihrer Machtergreifung werden afghanische Frauen ihrer Grundrechte beraubt und in allen Lebensbereichen diskriminiert.»
Wie die Flüchtlingshilfe weiter ausführt, stellt die Erteilung humanitärer Visa für Personen aus Afghanistan, die auf einer Schweizer Botschaft eines Nachbarlandes gestellt werden müssen, die absolute Ausnahme dar. Selbst Familienangehörige von Personen mit Asyl in der Schweiz, die Anspruch auf eine Einreise zu ihren hier lebenden Partnern oder Eltern haben, müssten viele Hindernisse überwinden, bis sie tatsächlich einreisen könnten. Aufgrund der seit kurzem erfolgenden Ausweisungen von Afghanen ohne Aufenthaltsbewilligung aus Pakistan habe sich die bisher schon prekäre Situation dort nochmals verschlechtert.