«Ich schätze die Demokratie nun noch mehr»
28.12.2024 SchweizDen Baselbieter Landrat mit seinen 90 Mitgliedern zu führen ist schwieriger als den Nationalrat mit 200 Parlamentariern. Darüber, über seine Erkenntnisse als Präsident der grossen Kammer und seine Vision von einer Schweiz in Europa hat die «Volksstimme» mit Eric ...
Den Baselbieter Landrat mit seinen 90 Mitgliedern zu führen ist schwieriger als den Nationalrat mit 200 Parlamentariern. Darüber, über seine Erkenntnisse als Präsident der grossen Kammer und seine Vision von einer Schweiz in Europa hat die «Volksstimme» mit Eric Nussbaumer gesprochen.
Thomas Gubler
Herr Nussbaumer, Sie waren ein Jahr lang höchster Schweizer und sind in der Wintersession wieder ins Glied zurückgetreten. Haben Sie Ihr Präsidium genossen?
Eric Nussbaumer: Ich würde es so sagen: Es war gut; eine schöne Aufgabe, die ich sehr gerne erfüllt und auch sehr genossen habe.
Die Funktion war mit sehr viel Repräsentationspflicht verbunden. Sicher war das nicht immer hoch spannend. Gibt es etwas, das Sie in diesem Jahr so richtig beeindruckt hat und das Präsidialjahr dadurch unvergesslich macht?
Ich wehre mich ein bisschen gegen ein Ranking von Veranstaltungen oder einen Wettbewerb um das Glanzlicht des Präsidialjahrs. Jede Begegnung und jede mir gestellte Aufgabe war gut und wichtig. Letztlich waren aber doch die Begegnungen mit dem ukrainischen Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk und mit Staatspräsident Wolodymyr Selenskyi in der herrschenden geopolitischen Situation einzigartig. Damit möchte ich aber nicht die Bedeutung anderer internationaler Begegnungen relativieren. Ich glaube, letztlich hatten alle Begegnungen ihre Wichtigkeit.
Sie waren zuvor schon mal ein «Höchster», nämlich Landratspräsident und damit höchster Baselbieter. Haben Sie als Nationalratspräsident davon profitiert?
Ich wusste bereits, dass man in diesem Amt alle gleich behandeln sollte und dass man sich dafür einsetzen muss, damit die Rechte aller politischen Parteien gewahrt werden. Insgesamt bin ich in diesem Jahr aber zur Einsicht gelangt, dass das Landratspräsidium in Bezug auf den eigentlichen Ratsvorsitz eher anspruchsvoller ist als das Nationalratspräsidium. Die Landratsdebatte war zumindest damals freier, die Anträge kamen später. Im Nationalrat ist alles streng geregelt. Es gibt eine Redezeitbeschränkung und klare Fristen für die Einreichung von Anträgen. Man weiss im Vorhinein ziemlich genau, wie die Debatte zu diesem oder jenem Thema ablaufen wird. Und auch die Abwicklung allfälliger Abstimmungskaskaden ist von den Parlamentsdiensten genau vorbereitet.
Mehr Ratsmitglieder bedeuten also nicht zwingend eine schwierigere Leitung?
Nein, gar nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall: Schon die Leitung des Ständerats ist aufgrund der freieren Debatte in der kleinen Kammer eher anspruchsvoller als die des Nationalrats, wie mir Eva Herzog, die ja zur selben Zeit Ständeratspräsidentin war, bestätigt hat.
Sie sind nun seit 17 Jahren in Bern. Insgesamt blicken Sie auf mehr als 30 Jahre Politik zurück. Wie hat sich die schweizerische in dieser Zeit verändert?
Was den Parlamentsbetrieb betrifft, so ist dieser immer noch sehr respektvoll. Noch immer ist man über die Parteigrenzen hinaus miteinander im Gespräch, was eine unbestrittene Stärke der schweizerischen demokratischen Kultur ist. Was sich am ehesten geändert hat: Die lösungsorientierte, harte und ringende Kompromissfindung ist meines Erachtens ein Stück weit verloren gegangen. Wir sind an der Gefahrenschwelle angelangt, wo die Konkordanz- zur Kampagnendemokratie wird. Meine Partei, die SP, und auch die SVP sind sehr kampagnenfähig und deshalb nicht mehr unter allen Umständen am Kompromiss interessiert. Man wechselt heute eindeutig schneller in den Kampagnenmodus und setzt auf die Durchsetzung der Interessen per Referendum. Das ist nicht immer gut.
Je erfolgreicher man an der Urne ist, desto leichter fällt einem das?
Nun, meine Partei ist sicher sehr kampagnenfähig geworden. Das ist gut. Allerdings man muss dieses Mittel auch verantwortungsvoll und richtig einsetzen.
Wie hat sich die Schweiz während dieser Zeit in Ihrer Wahrnehmung verändert?
Seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ist die Schweiz in eine ganz besondere Situation geraten. Bisher sind wir im multilateralen Konstrukt zur Friedenssicherung quasi mitgeschwommen und haben dort unseren Beitrag geleistet. Mit dem Ukraine-Krieg kamen komplizierte Fragen auf die Schweiz zu bezüglich Neutralität und Solidarität mit den europäischen Ländern. Hier erlebte unser Land in der jüngeren Vergangenheit einen Suchprozess. Das habe ich auch in meinem Präsidialjahr gespürt. Sehr vielen internationalen Besuchern und Gästen musste man die schweizerische Neutralität und die Handhabung der Kriegsmaterialausfuhr, aber auch das etwas schwierige Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union immer wieder erklären.
Sie sprechen von einem Suchprozess. Hat man dabei auch etwas gefunden?
Wir sind immer noch in einer Phase der Neutralitätsfindung und einer Neutralitätsdefinition im Kontext neuer geopolitischer Entwicklungen. Es gibt verschiedene Bewegungen und Stossrichtungen: Einige definieren die Neutralität absolut und verbinden sie mit keiner Wertehaltung, andere sehen die Neutralität als relative Grösse, die sich immer wieder neu zum Völkerrecht und zur UNO-Charta bekennen muss. Bezüglich Neutralität ist die Schweiz noch in hohem Masse eine suchende Nation. Noch haben wir die Antworten nicht. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob die Demokratie immer absolute Antworten finden kann und finden muss.
Vieles hat sich in diesem Land möglicherweise nicht ganz so entwickelt, wie Sie sich das vorgestellt haben. Leiden Sie manchmal an der Schweiz?
Ich muss die persönliche und die gemeinsame Sichtweise etwas auseinanderhalten. Ich war in jungen Jahren Pazifist und bin politisch in der Friedensbewegung gross geworden. Dass sich die Situation in Europa dahingehend entwickelt hat, dass wir wieder mit imperialistischen Aggressionskriegen konfrontiert sind, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Das hat meine Denkweise schon etwas verändert, insbesondere in Bezug auf Sicherheitsbemühungen und Sicherheitskooperationen. Diese Fragen beschäftigen mich heute doch sehr viel mehr. Leiden ist nicht ganz falsch. Aber es ist vielleicht auch richtig, dass man leidet, wenn Kriegssituationen wieder überhandnehmen. An der Schweiz leide ich aber nicht. Ich habe die demokratische Staatsform der Schweiz in meinem Präsidialjahr noch mehr schätzen gelernt. Ich leide allenfalls daran, dass man sich im politischen Prozess immer mehr auf Formeln wie etwa die Schuldenbremse usw. beruft, die demokratische und politische Entscheidungs- und Wegfindungen fast verunmöglichen.
Sie sind einer der profiliertesten Europapolitiker in diesem Land. Wie beurteilen Sie die derzeitige Position unseres Landes in Europa?
Ich denke, im Moment ist die Position wieder gut, weil die Schweiz seit dem Frühjahr Verhandlungen über ein Vertragspaket mit der EU geführt hat. Der Bundesrat hat das Ergebnis vor Weihnachten der Öffentlichkeit präsentiert. Dass die Schweiz ihr Verhältnis zur EU regeln und sich nicht vom Tisch davonmachen will, ist vielen europäischen Nachbarländern wichtig. Wir haben damit gezeigt, dass wir ein europäisches Land sein wollen. Der Bundesrat hat einen guten Job gemacht. Zudem hat die Schweiz die Bürgenstock-Plattform für einen Ukraine-Dialog geschaffen, und das hat sie im Vergleich zu vorher in eine ganz andere Liga gebracht. Diesbezüglich erfährt die Schweiz sehr viel Dankbarkeit. Jetzt aber geht es darum, den Weg des Bundesrats weiterzugehen und stabile Beziehungen zur EU zu schaffen. Wenn das gelingt, sind wir wieder akzeptiert in Europa und handlungsfähiger – und nicht mehr das querulante Sorgenkind.
Glauben Sie an eine Zukunft der Schweiz in Europa?
Auf jeden Fall. Die Schweiz ist eine stabile Demokratie und teilt die gleichen Werte wie viele europäische Länder. Und vor allem ist die Schweiz ein europäisches Land – wir können sie nicht verschieben. Deshalb ist es auch so wichtig, mit den Nachbarstaaten einen tragfähigen Modus Vivendi zu finden. Dazu brauchen wir stabile Verträge.
Glauben Sie angesichts der zentrifugalen Kräfte in Europa, welche die europäische Idee mitunter mit Füssen treten, noch an die Idee eines vereinigten Europas?
Ich glaube an eine starke Kooperation und einen starken Bund von Staaten. Denn Europa hat wirtschaftlich und geopolitisch nur eine Chance, wenn die verschiedenen Staaten miteinander kooperieren. Nach einem vereinigten Europa analog den Vereinigten Staaten von Amerika sieht es dagegen im Moment nicht aus. Der europäische Weg ist auch für die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied sehr passend.
Zurück zu Ihrer politischen Laufbahn. Nach dem Nationalratspräsidium haben Sie – ohne Ihnen damit zu nahe zu treten – den Höhepunkt Ihrer politischen Karriere überschritten. Welche Ziele verfolgen Sie noch?
Ich habe immer gesagt, dass das meine letzte Legislatur ist. Ich bin schliesslich auch schon 64 Jahre alt. Ich habe aber immer noch Freude am Politisieren. Entsprechend würde ich gerne noch das Europadossier bis zur Volksabstimmung über das Verhandlungspaket begleiten. Und wenn wir dadurch wieder ein gutes Verhältnis zur EU und den Nachbarstaaten zustande brächten, dann würde mich das natürlich sehr freuen.
Sie haben zweifellos viel erreicht. Allerdings mussten Sie auch mit Niederlagen umgehen. Wurmt es Sie noch, dass Sie 2013 trotz aussichtsreicher Position am Schluss doch nicht Baselbieter Regierungsrat geworden sind?
Jetzt wurmt mich das sicher nicht mehr. Aber damals hatte ich wohl ein paar Wochen daran zu beissen. Doch irgendwann muss man so etwas auch wegstecken können. Zur Politik gehört nun mal gewinnen und verlieren.
Politik scheint auch in Ihrer Familie eine grosse Rolle gespielt zu haben. Oder ist es Zufall, dass Ihre Tochter Melanie Grossrätin im Kanton Basel-Stadt ist?
Nun, meine Kinder sind mit einem politisierenden Vater und einer politisierenden Mutter aufgewachsen. Meine Frau war damals in der Kommunalpolitik engagiert. Sie haben also Politik zu Hause erlebt. Dass Melanie in den Basler Grossen Rat gewählt wurde, freut mich natürlich sehr. Christine wirkt in der Gemeindekommission Muttenz, Michael kreiert als Grafiker unsere Werbematerialien: Ja, wir sind eine politische Familie.
Was geben Sie Ihren Kindern politisch mit auf den Weg?
Meine Kinder sind mittlerweile ja erwachsen und haben eigene Familien. Doch Aufrichtigkeit und Gradlinigkeit sind im ganzen Leben und daher auch in der Politik gute Orientierungshilfen. Klar sagen, was man denkt und bei einer anderen Meinung nicht gleich zusammenzucken. Und als Motto: Man muss die Menschen gern haben, sonst kann man nicht Politik betreiben.
Zum Schluss die obligatorische Frage an einen abtretenden Nationalratspräsidenten, der sich im Übrigen auch dem Pensionsalter nähert: Machen Sie die Legislatur in Bern fertig?
Ich habe immer gesagt, das ist meine letzte Legislatur. Den Rest verrate ich später.
Zur Person
gu. Eric Nussbaumer (64) wurde in Mulhouse geboren und wuchs im Kanton Zürich auf. Nach einer Lehre als Elektromonteur absolvierte er das Technikum Winterthur und schloss 1983 als Elektroingenieur HTL ab. 1988 wurde er Geschäftsführer der ADEV Energiegenossenschaft (Liestal). Der SP-Politiker präsidierte 2005/06 den Landrat, bevor er 2007 als Nachrückender für den in den Ständerat gewählten Claude Janiak in den Nationalrat einzog. Im Dezember 2023 erfolgte mit 180 von 192 Stimmen seine Wahl zum Nationalratspräsidenten.