Mütter und Kinder in Sicherheit
20.04.2022 RickenbachUkrainische Mütter wohnen mit ihren Kindern in der «Waldegg»
Eine Gruppe von geflüchteten ukrainischen Müttern mit ihren Kindern wohnen vorübergehend im Heilsarmee-Ferienhaus Waldegg. Sieben Kinder haben Autismus, eine Entwicklungsstörung, die für das direkte Betreuungsumfeld eine ...
Ukrainische Mütter wohnen mit ihren Kindern in der «Waldegg»
Eine Gruppe von geflüchteten ukrainischen Müttern mit ihren Kindern wohnen vorübergehend im Heilsarmee-Ferienhaus Waldegg. Sieben Kinder haben Autismus, eine Entwicklungsstörung, die für das direkte Betreuungsumfeld eine grosse Herausforderung bedeutet.
Sander van Riemsdijk
Immer mehr Menschen in der Ukraine verlassen ihre Heimat. Viele Vertriebene, hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern – die Männer mussten in der Ukraine zurückbleiben – können bei Privaten untergebracht werden. Für andere müssen Unterkunftsmöglichkeiten gesucht werden. Insbesondere Kinder sind von den schrecklichen Ereignissen traumatisiert und brauchen wie auch ihre Mütter nach den Strapazen Stabilität und ein ruhiges, sicheres Umfeld.
Nach ihrer gemeinsamen Flucht via Moldawien haben durch örtliche Vermittlung einer Schweizerin sieben ukrainische Mütter aus Odessa seit dem 13. März mit ihren zwölf Kindern im Alter von anderthalb bis vierzehn Jahren diese Stabilität vorläufig in einer Unterkunft im Heilsarmee-Ferienhaus Waldegg, oberhalb von Rickenbach, gefunden. Vorläufig, weil der Aufenthalt bis Ende Juni begrenzt ist.
Das Ferienhaus, das die «Volksstimme» besuchen durfte, befindet sich auf Gemeindegebiet von Buus. Zur Entlastung der kleinen Gemeinde hat der Sozialdienst der Gemeinde Sissach die Zuständigkeit für die administrativen und finanziellen Angelegenheiten dieser Flüchtlingsgruppe übernommen. «Das war einmal so angedacht; de facto wird es so sein, dass Sissach auch für die Begleitung und Betreuung der Kinder zuständig ist», erläutert Philippe Matter, Leiter des Sozialdienstes Sissach. Die Begleitung dieser Mütter und ihrer Kinder, die alle den Schutzstatus S erhalten haben, hat die Heilsarmee Liestal übernommen.
Von jeder Familie hat ein Kind mittelschwere bis schwere autistische Störungen. Diese Kinder mit ihren in der Ukraine anerkannten Beeinträchtigungen trafen sich in Odessa nach dem Schultag in einem Tagesauffangzentrum. Sie brauchen aufgrund ihrer Entwicklungsstörung ein professionelles Umfeld und einen stabilen Rückzugsort, da sie stark auf unerwartete Situationen reagieren. «Zum Glück sind die Mütter als Bezugspersonen da, um ihren Kindern beim Bewältigen der ungewohnten Situation zu helfen. Ohne sie wäre es sehr schwierig geworden», schätzt Matter die Verhältnisse ein. Ohnehin ist er dankbar für die Entlastung und die grosse Hilfe im Alltag seitens der Heilsarmee. Für zwei der hier schulpflichtigen Kinder wird ein Platz in der Regelschule gesucht, für vier weitere je ein Platz im Rahmen einer Sonderschulung.
Überbrückung mit Tagesstruktur
Um die autistischen Kinder und ihre Mütter in ihrem nicht einfachen Alltag zu unterstützen, hat sich das «Zentrum für Sonderpädagogik auf der Leiern» in Gelterkinden in Zusammenarbeit mit dem heilpädagogischen Zentrum Liestal bereit erklärt, bis Ende Juni ein Überbrückungsangebot mit Tagesstruktur und Unterricht für die autistischen Kinder in der «Waldegg» anzubieten.
Der Alltag im Ferienhaus ist alles andere als ein Ferienaufenthalt. Trotz der sorgsamen Begleitung seitens der Heilsarmee durch den zuständigen Major Stefan Inniger, Heilsarmee-Offizier und Theologe, zusammen mit seiner Frau und dem Hauswart-Ehepaar, ist das tägliche Leben für die Mütter und ihre Kinder nicht einfach. Die Familien haben jeweils lediglich ein gemeinsames (Schlaf-)Zimmer für sich zur Verfügung und ein Tagesaufenthaltsraum dient als Gemeinschaftsraum. Sie gestalten und organisieren selber den gemeinsamen Alltag mit Einkaufen, Kochen und Haushalt. «Die Stimmung untereinander ist gut und sie unterstützen sich gegenseitig nach Kräften», beschreibt Inniger die Gemütslage. «Die Ungewissheit jedoch, wie es weitergeht, ist für alle bedrückend.»
Auch die ständige Angst darum, wie es ihren Männern und ihren Verwandten in ihrem Heimatland geht, begleitet sie in ihrem Alltag. Olga (Name geändert) umschreibt dies mittels Sprachübersetzer so: «Das Schwierigste ist jeweils der Morgen, wenn du nicht weisst, ob deine Familie die Nacht überlebt hat. Nachts wirft Russland Raketen ab und Hunderte von Menschen sterben.»
Der Aufenthalt der Flüchtenden in der «Waldegg» ist bis Ende Juni dieses Jahres sichergestellt. Nachher sei das Ferienhaus an Gruppen vermietet, so Inniger. Seit März hat die Verwaltung der Heilsarmee in Bern bereits, teils kurzfristig, einigen Gruppen für die Zeit bis Ende Juni absagen müssen.
Wohnungssuche kein Selbstläufer
Es stellt sich die zwingende Frage, wie es nach Ende des Aufenthalts in der «Waldegg» mit den ukrainischen Familien überhaupt weitergeht. «Grundsätzlich wollen die Frauen wieder zurück zu ihren Männern. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass bis Ende Juni die Kriegsthematik nicht gelöst ist», sagt Matter. Die Familien möchten längerfristig in separaten Unterkünften wohnen, insbesondere im Interesse ihrer autistischen Kinder. Den Kontakt untereinander möchten sie weiterhin pflegen. Matter hofft einerseits, für die Familien eine gute Wohnlösung zu finden, «anderseits müssen wir aber die Realität bezüglich dessen, was überhaupt möglich oder umsetzbar ist, im Auge behalten».
Zuerst wird in Sissach gesucht, falls nötig auch in den umliegenden Gemeinden. Auch die Heilsarmee sucht fleissig mit, so Inniger. Die Wohnungssuche wird kein Selbstläufer sein, trotzdem schaut Matter mit einer Prise Optimismus in die Zukunft: «Es wird vermutlich nicht möglich sein, innert kurzer Zeit für alle einzelne Wohnungen zu finden. Trotzdem bin ich dank der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung zuversichtlich, dass wir es irgendwie schaffen werden.»
Beim Abschied des Besuchs der «Volksstimme» liegt es den Müttern sehr am Herzen, uns folgende Botschaft mit auf den Weg zu geben: «Vielen Dank an die Schweiz und ihre Menschen für diesen herzlichen Empfang. Wir sind froh, dass die Bekanntschaft mit eurem Land durch die Heilsarmee zustande kam.»
Autismus
svr. Die Bezeichnung kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus den beiden Wörtern autos (selbst) und ismos (Zustand) zusammen. Es beschreibt einen Rückzug ins Innenleben. Bei Autismus oder einer autistischen Störung kommt es zu einer tief greifenden Entwicklungsstörung des Kindes. Sie macht sich durch Abkapselung von der Aussenwelt und mangelndes Interesse an sozialen Kontakten bemerkbar.