«Historisches Schreiben ist ein Puzzlespiel!»
01.07.2025 LangenbruckIrene Meyer erforscht die Vergangenheit des Dorfes
Auf mehr als 600 Seiten hat Irene Meyer die Geschichte des Passdorfes am Oberen Hauenstein zusammengetragen. Im Interview erzählt sie, wie sie vorgegangen und weshalb sie teilweise an ihre Belastungsgrenzen gelangt ist.
...Irene Meyer erforscht die Vergangenheit des Dorfes
Auf mehr als 600 Seiten hat Irene Meyer die Geschichte des Passdorfes am Oberen Hauenstein zusammengetragen. Im Interview erzählt sie, wie sie vorgegangen und weshalb sie teilweise an ihre Belastungsgrenzen gelangt ist.
Lorenz Degen
Frau Meyer, was fasziniert Sie an Geschichte?
Irene Meyer: In der Schulzeit hiess Geschichte für mich: Daten von Kriegen auswendig lernen, Grenzverläufe aufzählen, Kantone und Bundesräte benennen et cetera. Meine Faszination für Geschichte kam erst in späteren Jahren auf, als ich die einzelnen Menschen hinter der «grossen Geschichte» erkannte: Einzelschicksale, die soziale und kulturelle Entwicklung eines Dorfes oder gar Landes sowie die Geschichte der Frauen.
Wie kamen Sie auf die Idee, historische Themen zu bearbeiten und Bücher zu schreiben?
Es gab für mich zwei Hauptgründe. Einer davon ist das visuelle Erleben: Dieses vermisste ich in den meisten Geschichtsbüchern. Deshalb entschied ich mich 2015, selbst eine Chronik zu schreiben über Langenbruck, das Passdorf am Oberen Hauenstein. Das Motto: So viel Text wie nötig und so viele Bilder wie möglich. Also eine «Heimatkunde für die Augen».
Und was war der zweite Hauptgrund?
Das nachhaltige Bewahren: Jede Generation hinterlässt ihre Geschichte. Werden die Daten anschliessend nicht gesammelt und archiviert, gehen sie verloren. Zum Beispiel waren viele Buchquellen nur noch «zufällig» im Antiquariat auffindbar. Dies hat mich motiviert, so viele Fakten wie möglich nochmals zusammenzutragen. Letztendlich kamen 636 Seiten zustande.
Würden Sie gerne in einer früheren Epoche leben?
Während der Recherchen zur Passgeschichte des Oberen Hauensteins konnte ich erahnen, wie schwer der Alltag für die Menschen war – egal in welcher Epoche: Harte Arbeit, lange Arbeitszeiten, grosses Gefälle zwischen Arm und Reich, schlechte medizinische und soziale Versorgung – und die Frauen hatten kaum Rechte, aber viele Pflichten. Welch ein Unterschied zu unserem privilegierten Leben heute! Kurzum, ich möchte in keiner früheren Epoche leben und bin nur dankbar, im Hier und Jetzt zu sein.
Wie gehen Sie bei Recherchen vor?
Im Lauf der Zeit hat sich ein bewährtes Muster ergeben: Ich entdecke ein spannendes Thema und sichte die ersten Fakten, dabei mache ich mir fortlaufend Notizen. Allmählich entstehen daraus die einzelnen Kapitel. Danach beginnt die vertiefte Recherche, und dabei stosse ich oft auf weitere Stichworte und Quellen – bis das Manuskript fertig ist. Meist gleicht das Schreiben eines historischen Buches einem Puzzlespiel – man hat zu Beginn viele Einzelteile ohne klares Bild vor Augen.
Bitte, führen Sie das aus.
Ein Beispiel: Im Tellrodel, einer primitiven Bevölkerungsliste, las ich den kurzen Eintrag: «Peter der Glaser ze Langgenbrugg». Gab es in Langenbruck eine Glashütte? Diese Frage begleitete mich sehr lange, ohne dass ich weitere Anhaltspunkte fand. Erst Jahre später stiess ich zufällig auf die Glasbruderschaft von St. Agatha in Balsthal. Ich hatte eine Fährte! Und letztlich entstand ein 18-seitiges Kapitel über unsere Glashütte in Langenbruck und deren Zugehörigkeit zur Zunft von Balsthal.
Gab es Erkenntnisse während der Recherchen, die Sie überrascht haben?
Zusammenhalt und Sparsamkeit: Egal, welche Unglücksfälle, Krisen und Nöte die Dorfbevölkerung heimsuchten, man hat sich zusammengeschlossen und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Ein Beispiel: 1838 wurde die «Gemeinnützige Gesellschaft Langenbruck» gegründet. Ihr Ziel war es, in allen Belangen – Kirche, Schule, Kurwesen, Sozialwesen und so weiter – Hilfe zu leisten. Erstaunlich: In den Statuten wurde explizit vermerkt, dass Projekte erst realisiert werden dürfen, wenn das Geld dafür vorhanden ist. Also wurde gesammelt, hat man Spendenanlässe und Konzerte organisiert, Freiwilligeneinsätze geleistet – so lange, bis die Finanzierung gesichert war. Es gab keinen Kauf auf Pump oder Kredit. Man leistete sich weniger, dafür wurde bar bezahlt. Ein gutes Motto!
Gab es persönliche Grenzen während der Recherchen?
Beim Schreiben einer Chronik geht es oft um persönliche Schicksale. Während der drei Kapitel «Die Frauen im Dorf», «Als Weibsbild bevogtet» und «Die Hexenverfolgung» kam ich an meine Belastungsgrenze – welch ein Grauen, welch grosse Ungerechtigkeit und Armut. Ja, ich kam an meine Grenzen, weshalb ich das letzte Kapitel, «Die Verdingkinder», nur noch kurz recherchieren und erwähnen konnte. Es wurde mir gefühlsmässig zu viel.
Was für Reaktionen bekommen Sie von Ihren Leserinnen und Lesern?
Die meisten Rückmeldungen kommen von älteren Leserinnen und Lesern. Dies in Form von handgeschriebenen und meist sehr persönlichen Briefen. Darin berichten sie, welche Erinnerungen an die eigene Kindheit beim Lesen der Bücher aufgekommen sind. Und oft erfahre ich auch wiederum neue Geschichten von früher. Selbst Rückmeldungen von Fachleuten treffen immer wieder ein.
Treten Sie auch an Lesungen auf oder veranstalten Sie selbst Anlässe?
Ich bin ein sehr zurückhaltender Mensch und meide die Öffentlichkeitsarbeit. Anfragen gab es: für ein Radiointerview, Lesungen und persönliche Porträts über meinen Werdegang. Ich habe dankend abgelehnt, denn ich sehe mich lediglich als «die Erzählerin» von Geschichte und Geschichten und nicht als Akteurin im Rampenlicht – die «Bühne» gehört den Menschen in meinen Büchern.
Was für Projekte nehmen Sie als nächstes in Angriff?
Ob Wohnhäuser, Gastwirtschaften oder ganze Fabriken – landesweit stehen leider viele ehrwürdige Gebäude leer und verwahrlosen. Aus diesem Grund wollte ich unseren «Bären» nochmals aufleben lassen. Er war über Jahrhunderte ein viel besuchter Gasthof – mit Wechselstation und Fuhrhalterei. 2027 feiert der «Bären» sein 450-jähriges Bestehen. Leider ist auch er seit zwei Jahrzehnten unbewohnt. Im Moment wird er jedoch umfassend renoviert mit dem Ziel, Wohnraum zu schaffen. Ja, mich faszinieren alte Gebäude – sie haben Charakter und eine lange Geschichte. Und so hoffe ich, noch viele Fragmente über den Gasthof Bären finden zu können.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Zur Person
Irene Meyer ist 63-jährig und verheiratet. Ihr beruflicher Werdegang lautet: Büroangestellte in der Privatwirtschaft, im Alter von 30 Jahren Zweitausbildung als Fahrrad- und Motorfahrradmechanikerin.
Ab 1989 eigenes Fahrradgeschäft «Velo-Huus» in Langenbruck, gemeinsam mit Ruth Mesmer. Büround Buchhaltungsarbeiten für Kleinunternehmen auf selbstständiger Basis – dies seit der Schliessung der Velowerkstatt 2016.
Seit mehr als 35 Jahren ist Meyer freiberuflich Verfasserin von Sach- und Fachtexten. Davon veröffentlicht: Reportagen, Kurzgeschichten, Zeitungskolumnen, ein 360-seitiges Lehrbuch für die Fahrradbranche, zwei historische Bücher, Kurz-Biografien und mehr.
Hobbys: Besuch von Museen, Schlössern und Burgen, Handarbeiten und Holzwerken, Garten, kochen und spazieren.
Werkliste
• «Alltag am Oberen Hauenstein, Langenbruck, ein viel besuchtes Passdorf 58 v. Chr. – 1980»
• «Zeitreise – Werbung anno 1898», Werbung und Berichte aus dem Baselbiet
• «Zeitreise – kein Glück ohne Buch», Dokumentation über Marianne Probst, die Wirtin vom Gasthof Löwen in Murgenthal, anno 1790
• «Gemeinsam statt einsam – Ideensammlung für einen erfüllten Alltag im Seniorenalter»